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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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für welchen der Niedrigste zu arbeiten bereit ist, könne niemand bekommen. Folglich stehe die Masse des Volkes ständig in einem Kampf auf Leben und Tod mit der Armut. Das sei das »Konkurrenzprinzip«, wie es für den Lohnarbeiter aussieht, für den Mann, der nichts weiter als seine Arbeitskraft zu verkaufen hat; für die da oben, die Ausbeuter, stelle es sich natürlich ganz anders dar – die seien nur wenige und können sich zusammenschließen, eine beherrschende Macht bilden, gegen die dann nicht anzukommen ist. Und so hätten sich überall auf der Welt zwei Klassen gebildet, die eine unüberbrückbare Kluft trennt: die Kapitalistenklasse, die über ungeheure Vermögen verfügt, und das Proletariat, das mit unsichtbaren Ketten an ein Sklavendasein gefesselt ist. An Zahl seien die Proletarier den Kapitalisten tausend zu eins überlegen, aber da sie ungebildet und hilflos sind, würden sie ihren Ausbeutern so lange auf Gnade und Ungnade ausgeliefert bleiben, bis sie sich organisiert haben, bis sie »Klassenbewußtsein« entwickeln. Das sei zwar ein langwieriger, mühseliger Prozeß, aber es wäre wie bei einem Gletscher – einmal in Bewegung geraten, könne ihn nichts mehr aufhalten. Jeder Sozialist trage seinen Teil dazu bei und lebe mit der Vision von einer besseren Zukunft, in der die Arbeiterklasse zur Wahlurne schreitet, die Regierung übernimmt und dem Privateigentum an Produktionsmitteln ein Ende setzt. Wie arm einer auch ist oder wieviel er durchmachen muß, er könne nie mehr ganz unglücklich sein, wenn er von dieser Zukunft weiß. Und wenn er selbst sie vielleicht auch nicht mehr erleben wird, so doch seine Kinder; für einen Sozialisten sei der Sieg seiner Klasse sein eigener Sieg. Außerdem schöpfe er immer neuen Mut aus dem Fortschritt der Bewegung. Hier in Chicago zum Beispiel wachse die Partei sprunghaft. Als Industriezentrum des Landes habe Chicago zwar so starke Gewerkschaften wie sonst nirgends, aber den Arbeitnehmern würden ihre Organisationen wenig nützen, denn die Arbeitgeber seien ebenfalls organisiert. Darum blieben die Streiks meist wirkungslos, und in eben dem Maß, wie die Gewerkschaften zerschlagen werden, gingen die Arbeiter zu den Sozialisten über.
    Dann erklärte Ostrinski den Aufbau der Partei, der Organisation, durch die das Proletariat sich selbst erziehe und bilde: In jeder Großstadt habe sie »Ortsgruppen« und auch in den Kleinstädten würden sich jetzt überall welche gründen. Eine Ortsgruppe zähle sechs bis tausend Mitglieder, und bisher beständen eintausendvierhundert solcher Einheiten mit insgesamt fünfundzwanzigtausend beitragzahlenden Mitgliedern. Die Ortsgruppe Chicago habe achtzig Untergruppen und bringe allein mehrere tausend Dollar für den Wahlkampf auf. Sie gebe ein Wochenblatt in englisch heraus sowie auch eines in tschechisch und eines in deutsch; außerdem habe man in Chicago eine Monatsschrift und einen genossenschaftlichen Verlag mit einer Produktion von jährlich eineinhalb Millionen Büchern und Broschüren. All das habe sich erst in den letzten paar Jahren entwickelt – als er, Ostrinski, nach Chicago kam, sei fast noch gar nichts dagewesen.
    Ostrinski war Pole und etwa fünfzig Jahre alt. Er hatte in Schlesien gelebt, als Angehöriger einer verachteten und verfolgten Minderheit, und Anfang der siebziger Jahre an der proletarischen Bewegung teilgenommen, als Bismarck nach der Besiegung Frankreichs seine »Blut-und-Eisen«-Politik gegen die Internationale einsetzte. Ostrinski wurde zweimal ins Gefängnis geworfen, doch damals war er jung, und es machte ihm nichts aus. Dennoch, er hatte mehr als seinen Teil an dem Kampf geleistet, denn gerade als der Sozialismus alle gegen ihn errichteten Sperren durchbrochen hatte und zur großen politischen Kraft im Reich geworden war, ging Ostrinski nach Amerika und fing wieder ganz von vorn an. In Amerika hatte man schon bei dem bloßen Gedanken an Sozialismus gelacht – hier wären doch alle Menschen frei. Als ob, sagte Ostrinski, politische Freiheit die Lohnsklaverei erträglicher mache!
    Der kleine Hilfsschneider saß zurückgelehnt auf seinem harten Küchenstuhl und hatte die Füße auf dem kalten Herd ausgestreckt; er sprach im Flüsterton, um seine nebenan schlafende Familie nicht aufzuwecken. Jurgis erschien er kaum weniger großartig als der Redner auf der Versammlung; er stand auf der gesellschaftlichen Leiter ganz unten, war arm und elend – und doch, wieviel wußte er, wieviel hatte er gewagt und

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