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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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hieß für sie Jagd nach dem täglichen Brot, und Ideen existierten für sie nur, soweit sie darauf Auswirkungen hatten. An diesem neuen Tick ihres Schwiegersohnes interessierte sie einzig und allein, ob ihn das zu Nüchternheit und Fleiß anhalten werde, und als sie merkte, daß es ihm ernst war, sich Arbeit zu suchen und seinen Teil zum Unterhalt der Familie beizusteuern, gestattete sie ihm, sie zu überzeugen, wovon er wollte. Elzbieta war eine wunderbar weise kleine Frau; sie konnte so schnell denken wie ein von Hunden gehetzter Hase, und binnen einer halben Stunde hatte sie ihre lebenslange Einstellung zur sozialistischen Bewegung gefunden. Sie gab Jurgis in allem recht, außer darin, daß es notwendig sei, den Parteibeitrag zu zahlen; und ab und an ging sie sogar mit ihm zu einer Versammlung, wo sie dann inmitten des Begeisterungssturms dasaß und sich überlegte, was sie am nächsten Tag kochen sollte.
     
    Nachdem Jurgis Sozialist geworden war, ging er weiter täglich auf Arbeitssuche, und nach einer Woche lächelte ihm endlich das Glück. Er kam an einem von Chicagos unzähligen kleinen Hotels vorbei und beschloß nach einigem Zögern hineinzugehen. Ein Mann, den er für den Besitz er hielt, stand im Vestibül, und er sprach ihn um Arbeit an.
    »Was für Arbeit würden Sie denn machen wollen?« fragte der Mann.
    »Alles«, sagte Jurgis und fügte rasch hinzu: »Ich bin schon sehr lange arbeitslos, Sir, aber ich bin ehrlich und kräftig und außerdem sehr willig ...«
    Der andere musterte ihn scharf. »Trinken Sie?«
    »Nein, Sir.«
    »Nun, ich beschäftige einen Hausdiener, der ein Säufer ist. Siebenmal habe ich ihn schon hinausgeworfen, und ich finde, jetzt ist das Maß voll. Wollen Sie bei mir Hausdiener werden?«
    »Gern, Sir.«
    »Das ist keine leichte Arbeit. Sie müssen Fußböden schrubben, Spucknäpfe säubern, Lampen nachfüllen, Koffer schleppen ...«
    »Mach ich alles, Sir.«
    »Na gut. Ich zahle Ihnen dreißig im Monat plus freies Essen. Wenn Sie wollen, fangen Sie gleich an. Sie können die Sachen von dem andern anziehen.«
    Und so schritt Jurgis sofort ans Werk und arbeitete wie ein Pferd bis zum Abend. Dann ging er zu Elzbieta, erzählte ihr die Neuigkeit, und trotz der späten Stunde machte er auch noch einen kurzen Besuch bei Ostrinski, um ihm von seinem Glück zu berichten.
    Dort erwartete ihn eine große Überraschung, denn als er beschrieb, wo das Hotel lag, unterbrach ihn Ostrinski: »Etwa das von Hinds?«
    »Ja«, sagte Jurgis, »so heißt der Besitzer.«
    »Dann hast du den besten Chef in Chicago erwischt«, erklärte Ostrinski. »Er ist Parteiorganisator für Illinois und einer unserer bekanntesten Redner!«
    Als Jurgis am nächsten Morgen zu seinem Arbeitgeber ging, erzählte er ihm alles. Hinds nahm seine Hand und schüttelte sie. »Da fällt mir ein Stein vom Herzen!« rief er. »Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, weil ich einen guten Sozialisten entlassen habe.«
    Von da an war Jurgis für seinen Chef »Genosse Jurgis«, und umgekehrt mußte er ihn mit »Genosse Hinds« anreden. Tommy Hinds, ein untersetzter kleiner Mann mit breiten Schultern und rosigem, von einem grauen Backenbart eingerahmten Gesicht, war der gutmütigste Mensch unter Gottes Sonne, und der lebhafteste dazu; unermüdlich in seiner Begeisterung, sprach er Tag und Nacht vom Sozialismus. Er verstand es großartig, Leute in Stimmung zu bringen und eine Versammlung zu tosendem Beifall hinzureißen; war er einmal in Fahrt, ließ sich der Sturzbach seiner Beredsamkeit nur noch mit den Niagarafällen vergleichen.
    Tommy Hinds hatte als Schmiedegehilfe begonnen und war dann bei Ausbruch des Bürgerkrieges weggelaufen, um als Freiwilliger in die Nordstaatenarmee einzutreten. Dort hatte er zum ersten Mal erfahren, was Schiebergeschäfte sind, und zwar in Form von nicht richtig funktionierenden Gewehren und lumpenwollenen Schlafdecken. Einem Gewehr, das im entscheidenden Moment versagt hatte, schrieb er die Schuld am Tod seines einzigen Bruders zu, und die minderwertigen Decken machte er für das qualvolle Leiden seiner alten Tage verantwortlich. Bei feuchter Witterung plagte ihn nämlich Gelenkrheuma, und dann brummte er mit schmerzverzerrtem Gesicht: »Der Kapitalismus, mein Junge, der Kapitalismus! Écrasez l’Infâme!« Für alle Übel der Welt hatte er ein unfehlbares Heilmittel, und er predigte es jedem; egal, ob dem ein geschäftlicher Fehlschlag, eine Verdauungsstörung oder eine zänkische Schwiegermutter

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