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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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erreicht, was für ein Held war er! Und es gab viele wie ihn, Tausende vom gleichen Schlag, und alles Arbeiter! Daß dieses großartige Instrument des Fortschritts von seinen eigenen Kameraden allein geschaffen worden war, konnte Jurgis kaum glauben; es erschien ihm zu schön, um wahr zu sein.
    Das sei immer so, sagte Ostrinski; ein frisch zum Sozialismus Bekehrter wäre wie ein Besessener – er könne nicht verstehen, warum die anderen es noch nicht begreifen, und wolle die ganze Welt in einer Woche bekehren. Nach einiger Zeit merke er, wie schwer die Aufgabe ist, und dann sei es ein Glück, daß ständig neue Genossen kommen, was ihn davor bewahrt, in Trott zu verfallen. Gerade jetzt werde Jurgis reichlich Gelegenheit finden, seiner Begeisterung Luft zu machen, denn die Präsidentschaftswahlen ständen vor der Tür, und alle Welt rede von Politik. Er, Ostrinski, werde ihn zur nächsten Versammlung der Untergruppe mitnehmen und ihn dort vorstellen, dann könne er in die Partei eintreten. Der Beitrag sei fünf Cent die Woche, aber wer das nicht aufbringen kann, für den bestehe die Möglichkeit, es erlassen zu bekommen. Die Sozialistische Partei sei eine wirklich demokratische politische Organisation: Sie werde vollständig von den Mitgliedern geleitet – Vorgesetzte oder gar Bosse gebe es in ihr nicht. All das erklärte Ostrinski, und er legte Jurgis auch die Prinzipien der Partei dar. Eigentlich gebe es nur ein einziges sozialistisches Prinzip, sagte er, nämlich »keine Kompromisse schließen« – das sei auf der ganzen Welt das Wesentliche der proletarischen Bewegung. Ist ein Sozialist ins Parlament gewählt worden, stimme er zwar gemeinsam mit den Abgeordneten der alten Parteien für jedes Gesetz, das von Nutzen für die Arbeiterklasse sein kann, doch vergesse er nie, daß solche Konzessionen, worum es dabei auch immer gehen mag, belanglos sind gegenüber dem großen Ziel: die Arbeiterklasse für die Revolution zu organisieren. Bisher gelte in Amerika die Regel, daß ein Sozialist alle zwei Jahre einen weiteren für den Sozialismus gewinnt, und falls sich diese Zuwachsrate halten läßt, könnten sie im Jahre 1912 den Wahlsieg im Lande erringen. Doch nicht alle von ihnen würden mit einem so baldigen Erfolg rechnen.
    Die Sozialisten, sagte Ostrinski, seien in jedem zivilisierten Land organisiert; ihre Partei wäre international – die größte, die es je in der Welt gegeben hat. Sie zähle dreißig Millionen Anhänger, und davon seien acht Millionen stimmberechtigt. Ihre erste Zeitung sei in Japan erschienen und ihr erster Abgeordneter in Argentinien gewählt worden; in Frankreich stelle sie Kabinettsmitglieder, und in Italien und Österreich bilde sie das Zünglein an der Waage und könne Regierungen stürzen. In Deutschland, wo sie über mehr als ein Drittel aller Wählerstimmen verfügt, hätten sich alle anderen Parteien und Mächte gegen sie zusammengeschlossen. Deshalb nütze es auch nichts, erklärte Ostrinski, wenn das Proletariat in nur einem Land den Sieg erringt, denn diesen Staat würden dann die anderen Staaten mit militärischer Macht zerschlagen. Darum sei die sozialistische Bewegung eine weltweite Bewegung, eine Organisation der gesamten Menschheit zur Verwirklichung von Freiheit und Brüderlichkeit. Sie sei die neue Religion der Brüderlichkeit – man könne auch sagen, die Erfüllung der alten Religion, da sie ja auf die wortwörtliche Anwendung aller Lehren Christi hinausläuft.
     
    So ins Gespräch vertieft, saß Jurgis noch lange mit seinem neuen Bekannten auf. Es war für ihn ein ganz wunderbares, ja fast schon überirdisches Erlebnis – wie die Begegnung mit einem Wesen aus der vierten Dimension, das frei ist von all den eigenen Beschränktheiten. Vier Jahre lang irrte Jurgis nun schon in der Tiefe eines Dschungels umher, und hier streckte sich auf einmal eine Hand zu ihm herunter, zog ihn hinauf auf einen Berggipfel, von dem aus er alles überschauen konnte: die Pfade, von denen er abgeirrt, die Sümpfe, in die er geraten war, und die Verstecke der Raubtiere, die Jagd auf ihn gemacht hatten. Zum Beispiel seine Erfahrungen in Packingtown – was an Packingtown hätte Ostrinski nicht erklären können? Für Jurgis waren die Fabrikanten gleichbedeutend mit dem Schicksal gewesen. Ostrinski klärte ihn auf, daß sie der Fleisch-Trust waren: eine gigantische Kapitalanballung, die alle Gegenkräfte niederschlug, die Gesetze des Landes umstieß und das Volk ausbeutete. Jurgis erinnerte

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