Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
Vom Netzwerk:
hat mir etwas zu sagen.« Und dann sah er Jurgis an. »Sie wollen mehr über den Sozialismus wissen?« fragte er.
    Jurgis zuckte zusammen. »Ich ... ich«, stotterte er. »Ist das der Sozialismus? Das wußte ich nicht. Ich möchte mehr über das erfahren, wovon Sie gesprochen haben – ich möchte mithelfen. Ich habe das alles am eignen Leibe erlebt.«
    »Wo wohnen Sie?« fragte der andere.
    »Nirgends«, antwortete Jurgis. »Ich bin arbeitslos.«
    »Sie sind Einwanderer, nicht wahr?«
    »Aus Litauen, Sir.«
    Der Mann dachte einen Augenblick nach, dann wandte er sich an den Großen: »Wer kommt da in Frage, Walters? Vielleicht Ostrinski, aber der ist Pole ...«
    »Ostrinski kann Litauisch«, sagte Walters.
    »Na, dann ist’s ja gut. Schau doch bitte mal nach, ob er noch da ist.«
    Der andere ging weg, und der Redner sah wieder Jurgis an. Er hatte tiefliegende schwarze Augen, und aus seinem Gesicht sprachen Güte und Leid. »Mich müssen Sie entschuldigen, Genosse«, sagte er. »Ich bin todmüde – habe den ganzen letzten Monat jeden Tag geredet. Ich mache Sie mit jemandem bekannt, der Ihnen ebensogut helfen kann wie ich ...«
    Der Große hatte nur bis zur Tür zu gehen brauchen und kam jetzt mit einem Mann zurück, den er Jurgis als »Genosse Ostrinski« vorstellte. Ostrinski war klein, reichte Jurgis kaum bis zur Schulter, ein spindeldürres, verrunzeltes Männchen, urhäßlich, und obendrein hinkte er noch leicht. Er hatte einen langen schwarzen Gehrock an, der an den Knopflöchern und an den Nähten grau durchgescheuert war; seine Augen mußten schwach sein, denn er trug eine grüne Brille, die ihm etwas Groteskes verlieh. Doch sein Händedruck war herzlich, und er sprach Litauisch, was Jurgis gleich für ihn einnahm.
    »Du möchtest was über den Sozialismus wissen?« sagte er. »Bitte gern. Gehen wir raus und machen einen Spaziergang, damit wir in Ruhe reden können.«
    Und so verabschiedete sich Jurgis von dem großen Magier, und sie traten hinaus auf die Straße. Ostrinski fragte, wo er wohne, da er mit ihm in diese Richtung gehen wollte, und Jurgis mußte abermals erklären, daß er obdachlos sei. Auf Ostrinskis Wunsch erzählte er seine Geschichte: wie er nach Amerika gekommen, wie es ihm in den Yards ergangen, wie seine Familie zerbrochen und er heimatlos geworden war. Als der kleine Mann das alles vernommen hatte, drückte er Jurgis’ Arm. »Da hast du ja einiges hinter dir, Genosse«, sagte er. »Wir werden einen Kämpfer aus dir machen!«
    Dann erzählte Ostrinski von sich. Er sagte, er würde Jurgis gern mit zu sich nach Hause nehmen, aber er habe nur eine winzige Wohnung und kein freies Bett; er würde ihm ja sein eigenes überlassen, doch leider sei seine Frau krank. Als er später erfuhr, daß Jurgis dann in irgendeinem Torweg übernachten müsse, bot er ihm an, bei ihm in der Küche auf dem Fußboden zu schlafen, was Jurgis nur zu gern annahm. »Vielleicht können wir morgen mehr für dich tun«, sagte Ostrinski. »Wir bemühen uns, keinen Genossen hungern zu lassen.«
    Ostrinski wohnte im Judenviertel, wo er Stube und Küche im Souterrain einer Mietskaserne hatte. Ein Säugling schrie, als sie eintraten, und Ostrinski schloß die Tür zum Schlafzimmer. Sie hätten drei kleine Kinder, erklärte er, und vor kurzem sei noch das Baby dazugekommen. Er zog zwei Stühle an den Küchenherd und bat Jurgis, die Unordnung zu entschuldigen, da zu solcher Zeit die Häuslichkeit nun mal durcheinanderkomme. Die halbe Küche nahm ein Arbeitstisch ein, auf dem sich Hosen stapelten. Ostrinski erklärte, er sei »Ausfertiger«, hole sich von einer Konfektionsfirma große Packen Hosen und mache die in Heimarbeit zusammen mit seiner Frau fertig. Er verdiene damit den Lebensunterhalt, aber es falle ihm von Tag zu Tag schwerer, denn seine Augen ließen immer mehr nach. Was einmal werden soll, wenn er gar nichts mehr sehen kann, wisse er auch nicht; sparen hätten sie nichts können – selbst bei zwölf bis vierzehn Arbeitsstunden am Tag komme man nur knapp über die Runden. Das »Ausfertigen« von Hosen sei keine Facharbeit, das könne jeder lernen, und folglich werde es laufend schlechter bezahlt. Das sei das Entlohnungssystem nach dem Konkurrenzprinzip, und wenn Jurgis den Sozialismus verstehen lernen will, dann fange man am besten hiermit an. Um von einem Tag zum anderen ihr Leben fristen zu können, seien die Arbeiter auf Arbeit angewiesen, und so unterbiete einer den andern; einen höheren Lohn aber als den,

Weitere Kostenlose Bücher