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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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Beine, schreit auf in seiner neugeborenen Begeisterung ...«
    Von seinen Gefühlen überwältigt, brach der Redner ab; mit hocherhobenen Armen stand er da, und die Macht seiner Vision schien ihn vom Boden zu heben. Schreiend sprangen die Zuhörer auf, winkten und lachten laut in ihrer Erregung. Und Jurgis war unter ihnen, schrie sich die Kehle wund, weil er einfach schreien mußte, weil er das Übermaß seiner Empfindungen nicht ertragen konnte. Es lag nicht bloß an den Worten des Mannes, dem Sturzbach seiner Beredsamkeit, es war auch seine Gegenwart, seine Stimme; eine Stimme von ungewöhnlicher Intonation, die wie eine Glocke durch die Kammern der Seele hallte – die die Zuhörer gefangennahm wie eine seinen Körper umklammernde gewaltige Hand, die ihn schüttelte, ihn zu plötzlicher Furcht aufrüttelte, ihn etwas Überirdisches spüren ließ, nie zuvor ausgesprochene Mysterien, die Nähe von Ehrfurcht und Schrecken! Neue Ausblicke eröffneten sich ihm, der Boden unter ihm brach auf, hob sich, erbebte; plötzlich fühlte sich Jurgis nicht mehr als bloßer Mensch – er spürte ungeahnte Kräfte in sich erwachen, dämonische Mächte miteinander ringen, uralte Wunder ins Leben drängen. Von Schmerz und Glück überwältigt saß er da, während ihn ein Prickeln bis in die Fingerspitzen durchlief und sein Atem schwer und hastig ging. Die Sätze dieses Mannes waren für Jurgis wie Donnergrollen in seiner Seele; eine Flut von Gemütsbewegungen wogte in ihm hoch: all seine alten Hoffnungen und Sehnsüchte, sein alter Kummer, sein alter Zorn, seine alte Verzweiflung. Alles, was er je im Leben empfunden hatte, schien jetzt auf einmal zurückzukommen und dazu noch eine neue, schwer zu beschreibende Empfindung. Daß er solche Verknechtung und solche Greuel hatte erdulden müssen, war schlimm genug, aber daß er sich von ihnen hatte erdrücken und zermalmen lassen, daß er sich unterworfen, daß er vergessen, daß er in Ruhe weitergelebt hatte – ach, dafür gab es keine Worte, das war unerträglich, war zum Wahnsinnigwerden! »Was«, so fragte der Prophet, »ist das Morden jener, die den Leib töten, gegen das Morden jener, die die Seele töten?« Und Jurgis gehörte zu denen, deren Seele getötet worden war, die aufgehört hatten, zu hoffen und zu kämpfen, die sich mit der Erniedrigung und Verzweiflung abgefunden hatten, und diese düstere und abscheuliche Tatsache wurde ihm jetzt auf einmal klar. Es war eine schreckliche Erschütterung für ihn; alle Pfeiler seiner Seele stürzten ein, der Himmel über ihm schien aufzureißen. Die geballten Fäuste emporgestreckt, stand Jurgis mit blutunterlaufenen Augen und purpurrot hervortretenden Schläfen da und brüllte wie ein wildes Tier, unzusammenhängend, außer sich, rasend. Und als er nicht mehr schreien konnte, rang er nach Luft und flüsterte heiser vor sich hin: »Bei Gott! Jawohl! Jawohl!«

29
    Der Redner hatte wieder auf dem Podium Platz genommen, und Jurgis begriff, daß die Rede zu Ende war. Der Applaus währte noch etliche Minuten mehr, dann stimmte jemand ein Lied an, die Menge fiel ein, und der ganze Saal erdröhnte von dem Gesang. Jurgis hatte dieses Lied noch nie gehört, und er konnte auch seinen Text nicht verstehen, sein wilder und herrlicher Schwung aber riß ihn mit – es war die Arbeiter-Marseillaise! Während Strophe um Strophe geschmettert wurde, saß er mit zusammengepreßten Händen da und bebte mit jeder Faser seines Körpers. Noch nie im Leben hatte ihn etwas so aufgewühlt – ein Wunder war mit ihm geschehen. Denken konnte er überhaupt nicht, war wie betäubt, doch wußte er, daß in dem gewaltigen Aufruhr, der sich in seiner Seele vollzogen hatte, ein neuer Mensch geboren worden war. Er war dem Rachen der Vernichtung entrissen, aus der Knechtschaft der Verzweiflung erlöst. Die ganze Welt hatte sich für ihn verändert: Er war frei! Selbst wenn er leiden müßte wie bisher, wenn er weiter zu betteln und zu hungern hätte, wäre das für ihn doch nicht mehr dasselbe – er würde es verstehen und ertragen. Er wäre nicht länger Spielball der Verhältnisse, wäre ein Mann mit einem Willen und einem Ziel, hätte etwas, für das zu kämpfen und nötigenfalls auch zu sterben lohnte! Hier waren Leute, die ihn anleiten und ihm helfen würden – er hätte Freunde und Verbündete.
    Die Zuhörer beruhigten sich, und Jurgis setzte sich wieder. Der Leiter der Versammlung trat vor und begann zu reden. Seine Stimme klang nach der des anderen flau und

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