Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
Vom Netzwerk:
kraftlos, kam Jurgis wie eine Entweihung vor. Warum mußte nach diesem großartigen Mann überhaupt noch jemand sprechen – konnten sie nicht alle dasitzen und schweigen? Der Versammlungsleiter erklärte, zur Deckung der Unkosten für die Veranstaltung und für den Wahlfonds finde jetzt eine Geldsammlung statt. Jurgis hörte es, aber da er keinen Cent besaß, schweiften seine Gedanken bald ab.
    Er ließ kein Auge von dem Redner. Der saß mit auf die Hand gestütztem Kopf in einem Armstuhl, und seine Haltung verriet deutlich, wie ausgepumpt er war. Doch plötzlich erhob er sich wieder, und Jurgis hörte den Versammlungsleiter sagen, der Redner werde jetzt Fragen beantworten, die die Zuhörer ihm vielleicht stellen wollen. Der Mann trat vor, und jemand – eine Frau – stand auf und bat um näheren Aufschluß über eine vorhin von ihm gemachte Bemerkung über Tolstoi. Jurgis hatte noch nie von Tolstoi gehört, und der kümmerte ihn auch nicht im geringsten. Wie konnte jemand eine solche Frage stellen, nach einer solchen Rede! Es ging jetzt doch nicht ums Reden, sondern ums Handeln; es ging darum, andere zu gewinnen, sie aufzurütteln, sie zu organisieren und für den Kampf vorzubereiten!
    Aber die Diskussion lief weiter, im Ton einer ganz gewöhnlichen Unterhaltung, und sie brachte Jurgis in den Alltag zurück. Vor wenigen Minuten noch hatte er die Hand der schönen Dame neben ihm ergreifen und küssen mögen, hatte geglaubt, er müsse dem Mann an seiner anderen Seite um den Hals fallen. Doch jetzt wurde ihm langsam wieder bewußt, daß er nur ein Obdachloser war – zerlumpt und schmutzig, ein übelriechender Kerl, der nicht wußte, wo er die Nacht schlafen sollte!
    Und so kam sich der arme Jurgis, als die Versammlung schließlich aufgelöst wurde und die Zuhörer aufbrachen, verlorener denn je vor. Daran, daß er wieder gehen mußte, hatte er gar nicht gedacht – er hatte geglaubt, der Traum würde ewig währen und er habe jetzt Brüder und Genossen. Aber nun würde er hinausgehen, und alles würde zerrinnen und sich nie mehr wiederfinden lassen! Verstört und grübelnd blieb er auf seinem Platz sitzen, doch andere in der Reihe wollten hinaus, und so mußte er aufstehen und weitergehen. Während er von der Menschenmenge durch den Mittelgang geschoben wurde, blickte er sehnsüchtig von einem zum andern; alle unterhielten sich lebhaft über die Rede – ihn aber zog niemand in ein Gespräch. Als er schon so nahe der Tür war, daß er die Nachtluft spürte, packte ihn der Mut der Verzweiflung. Er wußte ja gar nichts über die Rede, die er eben gehört hatte, nicht mal den Namen des Redners, und so sollte er nun weggehen – nein, das war unmöglich, er mußte mit jemandem sprechen, mußte zu dem Mann selbst hin und es ihm sagen. Der würde ihn nicht verachten, auch wenn er nur ein Tramp war.
    So trat er in eine leere Sitzreihe und wartete, bis sich die Menge gelichtet hatte. Dann ging er vor zum Podium. Der Redner war schon weg, aber eine Bühnentür stand offen, durch die die Leute aus und ein gingen und an der niemand aufpaßte. Jurgis nahm all seinen Mut zusammen und trat durch die Tür. Er lief einen Korridor entlang, bis er an eine weitere Tür kam, vor der sich viele drängten. Kein Mensch achtete auf ihn, und er schob sich hinein. In einer Ecke erblickte er den Mann, den er suchte. Der Redner saß mit hängenden Schultern und halb geschlossenen Augen auf einem Stuhl; sein Gesicht war überblaß, fast schon grünlich, und der eine Arm hing schlaff herab. Ein großer Mann mit Brille stand neben ihm und sagte immer wieder zu den Leuten: »Tretet doch bitte ein bißchen zurück. Seht ihr denn nicht, daß der Genosse völlig erschöpft ist?«
    Jurgis wartete. Fünf oder zehn Minuten vergingen. Ab und an blickte der Redner auf und richtete ein paar Worte an jene, die ihm am nächsten standen. Dabei fiel sein Blick schließlich auf Jurgis. In seinen Augen schien etwas Fragendes zu liegen, und einer plötzlichen Regung folgend, trat Jurgis vor.
    »Ich wollte Ihnen danken, Sir!« begann er in atemloser Hast. »Ich konnte einfach nicht weggehen, ohne Ihnen zu sagen, wie sehr ... wie froh ich bin, daß ich Sie gehört habe. Ich ... ich wußte überhaupt nichts von alldem ...«
    Der Große mit der Brille, der inzwischen rausgegangen war, kam in diesem Augenblick zurück. »Der Genosse ist zu abgespannt, sich jetzt mit jemandem zu unterhalten ...« hub er an.
    Der andere hob die Hand. »Warte«, unterbrach er ihn, »er

Weitere Kostenlose Bücher