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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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Reden war er stark heiser, aber die riesige Menschenmenge im Saal lauschte so still, daß man eine Stecknadel hätte zu Boden fallen hören können, und alle verstanden ihn.
    Als Jurgis nach Ende der Versammlung ging, drückte ihm jemand eine Zeitung in die Hand. Er nahm sie mit nach Hause, las sie, und so lernte er den »Appeal to Reason« kennen. Vor etwa zwölf Jahren war ein Bodenspekulant aus Colorado zu dem Schluß gekommen, daß es ungerecht sei, mit dem, was Menschen zum Leben brauchen, Spekulationsgeschäfte zu machen; er hatte dann damit aufgehört und angefangen, ein sozialistisches Wochenblatt mit dem programmatischen Namen »Appeal to Reason« – Appell an die Vernunft – herauszugeben. Der Start war schwer gewesen; es gab Zeiten, da mußte er sein Blatt eigenhändig setzen, doch er hatte durchgehalten, und jetzt war der »Appeal« zu einer Institution geworden. Jede Woche verbrauchte er einen ganzen Waggon Papier, und auf dem Bahnhof der kleinen Stadt in Kansas mußten die Postzüge stundenlang warten, bis die vielen Versandexemplare alle verladen waren, denn die Zeitschrift, die aus vier Seiten bestand und keinen halben Cent kostete, hatte eine Viertelmillion Abonnenten und wurde an das Postamt jedes kleinsten Nestes im Lande verschickt.
    Der »Appeal« war ein »Propaganda«-Blatt mit ganz eigener Note – schmissig und spritzig, voll Pfeffer und auch voll Slang. Er sammelte Nachrichten über das Treiben der »Plutos« und setzte sie dem »amerikanischen Arbeitsgaul« als Futter vor, und zwar in Form von vernichtenden Gegenüberstellungen: hier der für Millionen Dollar gekaufte neue Brillantschmuck einer Dame der Gesellschaft oder das seidenbezogene Himmelbett ihres Schoßhündchens, dort das Schicksal der Mrs. Murphy in San Francisco, die auf der Straße verhungert war, oder des John Robinson in New York, der sich nach einem Krankenhausaufenthalt erhängte, weil er keine Arbeit hatte finden können. Meldungen der Tagespresse über Korruption und Elend wurden umgeschrieben zu sarkastischen Notizen: »South Dakota. Drei Geldinstitute in Bungtown bankrott – wieder mal Spargelder von Arbeitern zum Teufel!« – »Oklahoma. Bürgermeister von Sandy Creek mit 100.000 Dollar durchgebrannt! Solche Stadtväter stellen die alten Parteien!« – »Florida. Präsident der Florida Flying Machine Company wegen Bigamie verurteilt! Er war ein erklärter Gegner des Sozialismus, weil der die Familie zerstören würde!« Der »Appeal« hatte eine engere Gefolgschaft, die er seine »Armee« nannte, etwa dreißigtausend Getreue, die für ihn arbeiteten und von ihm immer wieder angespornt wurden, gelegentlich sogar durch Preisausschreiben, bei denen alles mögliche zu gewinnen war, von einer goldenen Uhr bis zu einer Segeljacht oder gar einer kompletten Kleinfarm. Sein Personal war der Armee mit Spitznamen bekannt; da gab es den »Tinten-Tommy«, »Kit den Kahlen«, die »Rothaarige«, die »Bulldogge«, den »Bürohengst« und den »Stoppelhopser«.
    Aber manchmal konnte der »Appeal« auch verdammt ernst werden. Er schickte einen Korrespondenten nach Colorado und brachte seitenlange Berichte, wie in diesem Bundesstaat die amerikanischen Einrichtungen mit Füßen getreten wurden. In einer bestimmten Großstadt des Landes hatte er über vierzig Angehörige seiner Armee in der Zentrale des Telegraphen-Trusts sitzen, und es ging dort keine für Sozialisten auch nur einigermaßen wichtige Nachricht durch, von der nicht eine Abschrift an den »Appeal« geschickt wurde. Jetzt zum Wahlkampf gab er eine große Sondernummer mit einem flammenden Aufruf an die streikenden Arbeiter heraus, und davon wurde nahezu eine Million Exemplare in jenen Industriezentren verteilt, wo die Arbeitgeberverbände ihre Politik der Diskriminierung von Gewerkschaftlern betrieben. »Ihr habt den Streik verloren!« lautete die Überschrift. »Was könnt Ihr nun unternehmen?« Es war eine sogenannte Brandrede, verfaßt von einem Mann, in dessen Seele die Saat aufgegangen war. Zwanzigtausend dieser Sondernummer wurden zum Yard-Viertel geschickt und dort im Hinterzimmer eines kleinen Zigarrenladens versteckt, wo sich dann die Mitglieder der Untergruppe Packingtown abends und auch sonntags jeder einen Armvoll holten und sie auf den Straßen und in den Häusern verteilten. Wenn jemals Arbeiter ihren Streik verloren hatten, dann die von Packingtown, und darum interessierte sie der Aufruf an sie sehr, so daß die zwanzigtausend Stück kaum reichten.

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