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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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gehörten, von den Gewerkschaften und den großen Streiks sowie den Männern, die sie angeführt hatten. Und abends ging Jurgis, wenn er abkommen konnte, zu sozialistischen Versammlungen. Während des Wahlkampfes war man nicht auf Seifenkistenagitatoren angewiesen, sondern es fanden jeden Abend Veranstaltungen in Sälen statt, wo man vom Wetter unabhängig war und landesweit bekannte Redner hören konnte. Diese erörterten die politische Lage von allen Seiten, und Jurgis’ einziger Kummer war, daß er nur einen Bruchteil der dargebotenen Schätze heimtragen konnte.
    Einer der Redner war in der Partei als »der kleine Riese« bekannt. Der liebe Gott hatte, als er seinen Kopf schuf, so viel Material verbraucht, daß für die Beine nicht mehr genug übriggeblieben war, aber auf dem Podium verstand dieser gnomenhafte Mann sich zu bewegen, und wenn er seinen rabenschwarzen Bart schüttelte, erbebte der Kapitalismus in seinen Grundfesten. Er hatte ein umfassendes Werk über das Thema geschrieben, eine wahre Enzyklopädie, ein Buch beinahe so groß wie er selbst. Dann war da ein junger Schriftsteller, der aus Kalifornien kam, Lachsfischer, Austernpirat, Hafenarbeiter und Seemann gewesen und als Tramp durchs Land gezogen war, der im Gefängnis gesessen, in den Slums von Whitechapel gelebt und am Klondike Gold gesucht hatte. Das alles schilderte er in seinen Büchern, und da er ein Genie war, zwang er die Welt, ihn anzuhören. Obwohl inzwischen berühmt, predigte er, wohin er auch kam, nach wie vor das Evangelium der Armen. Ein anderer wurde »der Millionär-Sozialist« genannt. Er hatte in der Wirtschaft ein Vermögen gemacht und fast alles davon in die Gründung einer Zeitschrift gesteckt, die dann durch Unterdrückungsversuche seitens des Postministeriums nach Kanada vertrieben worden war. Er war ein Mann von ruhigem Wesen, den man für alles andere als für einen sozialistischen Agitator gehalten hätte. Bei seinen Reden blieb er stets gelassen – er konnte nicht verstehen, weshalb man sich über diese Dinge ereifern sollte. Es handle sich doch um einen ökonomischen Entwicklungsprozeß, erklärte er und legte dessen Gesetzmäßigkeit dar. Das Leben sei ein Kampf ums Dasein, der Starke bezwinge den Schwachen und werde seinerseits von dem noch Stärkeren bezwungen. Die Verlierer in diesem Kampf gingen im allgemeinen zugrunde, doch hin und wieder hätten sie bekanntlich überlebt, und zwar dann, wenn sie sich zusammengeschlossen hatten – und dadurch eine neue und höhere Art von Stärke erreichten. Auf diese Weise hätten sich in der Natur die Herdentiere gegen die Raubtiere gehalten und in der Geschichte der Menschheit die Untertanen gegen die Könige durchgesetzt. Die Arbeiter seien einfach die Untertanen der Industrie, und die sozialistische Bewegung wäre der Ausdruck ihres Überlebenswillens. Die Zwangsläufigkeit der Revolution ergebe sich daraus, daß sie keine andere Wahl haben, als sich entweder zusammenzuschließen oder aber zugrunde zu gehen. Diese harte und unerbittliche Tatsache hänge gar nicht vom Willen der Menschen ab, sondern sei das Gesetz des ökonomischen Prozesses. Und den legte der Redner dann mit bewundernswerter Genauigkeit in allen Einzelheiten dar.
    Einige Zeit später fand die große Wahlversammlung statt, auf der Jurgis die beiden Bannerträger seiner Partei reden hörte. Vor einem Jahrzehnt waren in Chicago hundertfünfzigtausend Eisenbahner in den Ausstand getreten. Da hatten die Bahngesellschaften Rowdys gedungen, Gewalttaten zu begehen. Diese wurden den Streikenden angelastet, woraufhin der Präsident der USA Militär entsandte, den Streik zu brechen. Die Gewerkschaftsführer wurden verhaftet und ohne Gerichtsverfahren ins Gefängnis gesteckt. Der Vorsitzende der Gewerkschaft verließ seine Zelle zwar als geschlagener Mann, aber dafür war er während der Haft zum überzeugten Sozialisten geworden, und nun reiste er schon zehn Jahre durchs Land und trat überall in flammenden Worten für Gerechtigkeit ein. Es ging etwas Elektrisierendes von ihm aus; er war hochgewachsen und hager, mit einem Gesicht, das Kampf und Leid gezeichnet hatten. Der Zorn der beleidigten Menschheit loderte in diesem Gesicht – die Tränen leidender Kinder schwangen in seiner Stimme. Beim Sprechen schritt er auf dem Podium auf und ab, geschmeidig und auf dem Sprung wie ein Panther. Er beugte sich vor, streckte den Arm aus und wies mit eindringlichem Zeigefinger in die Herzen seiner Zuhörer. Von seinen vielen

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