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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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Jurgis hatte eigentlich seine alte Gegend nicht wieder aufsuchen wollen, doch als er das hörte, hielt er es nicht mehr aus, und eine Woche lang fuhr er jeden Abend mit der Straßenbahn hinaus zu den Yards, um sein Werk vom vergangenen Jahr wiedergutzumachen, als er Mike Scullys Kegelaufsteller zu einem Sitz im Stadtrat verholfen hatte.
    Es war ganz erstaunlich, wie sich in den zwölf Monaten die Stimmung in Packingtown verändert hatte – dem Volk gingen langsam die Augen auf! Bei diesem Wahlkampf fegten die Sozialisten alles nur so vor sich her, und Scully und der Parteiapparat der Demokraten waren um einen Gegenschlag verlegen, wußten nicht mehr ein noch aus. Ganz am Schluß der Kampagne besannen sie sich darauf, daß der Streik von Negern gebrochen worden war, und ließen deshalb aus South Carolina einen Renommierredner kommen, den »Mistgabel-Senator«, wie er genannt wurde, einen Mann, der sich den Rock auszog, wenn er mit Arbeitern sprach, und der wie ein Landsknecht fluchte. Für diese Veranstaltung rührten sie mächtig die Trommel, und die Sozialisten warben ebenfalls dafür – mit dem Ergebnis, daß an dem Abend rund tausend von ihnen im Saal waren. Etwa eine Stunde lang hielt der Mistgabel-Senator ihrem Hagel von Fragen stand, dann schob er verärgert ab, und der Rest der Versammlung war reiner Parteikram. Für Jurgis, der sich das nicht hatte nehmen lassen wollen, wurde es der Abend seines Lebens; er zappelte herum, fuchtelte wild mit den Armen – und auf dem Höhepunkt machte er sich von seinen Freunden los, stürzte hinaus auf den Mittelgang und schickte sich an, selber eine Rede zu halten! Der Senator hatte abgestritten, daß die Demokratische Partei korrupt sei; es wären immer die Republikaner, die die Stimmen kaufen, erklärte er. Doch da schrie Jurgis aufgebracht dazwischen: »Das ist gelogen! Das ist gelogen!« Dann sagte er, wieso er das behaupten könne – weil er selber Stimmen gekauft habe! Und er hätte dem Mistgabel-Senator noch all seine Erlebnisse mitgeteilt, wäre er nicht von Harry Adams und einem Freund zurückgezerrt und wieder auf seinen Platz gedrückt worden.

31
    Gleich nachdem Jurgis Arbeit gefunden hatte, war er zu Marija gegangen. Sie war heruntergekommen, um ihn zu begrüßen, und er stand mit dem Hut in der Hand in der Tür und sagte: »Ich habe jetzt eine Stelle. Nun kannst du hier aufhören.«
    Doch Marija schüttelte nur den Kopf. Sie könne nichts anderes mehr tun, sagte sie, und niemand würde sie einstellen. Ihre Vergangenheit ließe sich nicht verheimlichen; einige Mädchen hätten es versucht, aber es wäre stets herausgekommen. Tausende Männer besuchten das Etablissement, und früher oder später würde sie dem einen oder anderen wiederbegegnen. »Und außerdem«, fügte sie hinzu, »könnte ich gar nicht mehr ordentlich arbeiten – ich nehme Rauschgift.«
    »Kannst du damit denn nicht aufhören?« rief Jurgis.
    »Nein«, antwortete sie mit Nachdruck, »nie mehr. Wozu also drüber reden? Ich werde wohl hier weitermachen, bis ich sterbe. Es ist das einzige, wozu ich noch tauge.« Zu einer anderen Entscheidung war sie nicht zu bewegen, und als er ihr erklärte, er lasse es nicht länger zu, daß Elzbieta von ihrem Geld lebt, erwiderte sie gleichgültig: »Dann wird es eben hier verjubelt.«
    Ihre Lider waren schwer, ihr Gesicht sah rot und aufgedunsen aus. Jurgis merkte, daß er ihr ungelegen kam, daß sie ihn schnell wieder loswerden wollte. Und so ging er, enttäuscht und traurig.
    Daheim bei Elzbieta und den Kindern fühlte sich der arme Jurgis nicht sehr glücklich. Elzbieta war jetzt oft krank, und die Jungen hatten während ihres Herumtreibens auf den Straßen eine starke Unbändigkeit entwickelt, die sie sich kaum noch austreiben ließen. Trotzdem hielt Jurgis zur Familie, denn sie erinnerte ihn an sein einstiges Glück, und gab es daheim Ärger, fand er Trost in seiner Arbeit für die sozialistische Bewegung. Seit diese große Strömung ihn mitgerissen hatte, war ihm vieles von dem, was früher sein Leben ausgemacht hatte, gar nicht mehr wichtig; seine Interessen lagen jetzt anderswo: in der Welt der Ideen. Nach außen hin verlief sein Dasein einförmig und alltäglich; er war nur ein Hausdiener und hatte keine Erwartung, jemals etwas anderes zu werden, doch im Reich der Gedanken war sein Leben ein unaufhörliches Abenteuer. Es gab so vieles zu wissen, so viele Wunder zu entdecken! Besonders unvergeßlich blieb Jurgis der Abend vor dem Wahltag. Harry

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