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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel
Autoren: Upton Sinclair
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Adams war von einem Bekannten angerufen worden, der ihn zu sich einlud und sagte, er möge doch seinen litauischen Kollegen mitbringen; Jurgis ging mit und wurde dort dann mit einem der führenden Köpfe der Bewegung bekannt.
    Der Gastgeber war ein Mr. Fisher, ein junger Chicagoer Millionär, der sein Leben der Sozialhilfe verschrieben hatte und auch in die Slums gezogen war. Der Partei gehörte er nicht an, aber er sympathisierte mit ihr. Er hatte am Telephon gesagt, er erwarte diesen Abend als Gast den Chefredakteur einer der großen Zeitschriften des Ostens; dieser Mann schreibe Artikel gegen den Sozialismus, ohne ihn überhaupt zu kennen, und da wäre es gut, wenn Adams den ehemaligen Schlachthofarbeiter mitbringt und irgendwann das Thema »unverfälschte Nahrungsmittel« anschneidet, für das der Journalist sich sehr interessiert.
    Fisher wohnte in einem kleinen Backsteinhaus, das von außen verwittert und schäbig aussah, innen jedoch Behaglichkeit ausströmte. Das Zimmer, in das Jurgis kam, war voller Bücher, und an den Wänden hingen viele Bilder, die man in dem gedämpften gelben Licht aber nur undeutlich erkennen konnte. Da der Abend kalt und regnerisch war, prasselte ein Holzfeuer in dem offenen Kamin, um den sich schon sieben, acht Personen versammelt hatten, als Adams und Jurgis eintraten. Zu seiner Bestürzung sah Jurgis, daß drei davon feine Damen waren. Er hatte sich noch nie mit Leuten dieser Gesellschaftsschicht unterhalten und geriet nun in die peinlichste Verlegenheit. Seinen Hut krampfhaft in den Händen drehend, stand er in der Tür und machte jedem, dem er vorgestellt wurde, einen tiefen Bückling. Gebeten, doch Platz zu nehmen, wählte er einen Stuhl in einer dunklen Ecke, setzte sich auf die äußerste Kante und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Mit Entsetzen dachte er daran, daß man ihn womöglich zum Reden auffordern werde.
    Anwesend waren der Gastgeber, ein hochgewachsener, athletisch gebauter junger Mann im Abendanzug, und der ebenso gekleidete Journalist, ein magenkrank aussehender Herr namens Maynard; dann die zarte junge Mrs. Fisher, ferner eine ältere Dame, die den Kindergarten des Sozialwerks leitete, sowie eine Studentin, ein wunderschönes Mädchen mit aufmerksamem, ernstem Gesicht. Sie ergriff nur ein- oder zweimal das Wort, saß sonst nur an dem Tisch in der Mitte des Zimmers, das Kinn auf die Hände gestützt, und sog die Unterhaltung förmlich in sich ein. Dann waren noch zwei Männer da, die Fisher als Mr. Lucas und Dr. Schliemann vorgestellt hatte; Jurgis hörte, daß Adams sie mit »Genosse« anredete, und wußte daher, daß sie Sozialisten waren.
    Lucas war ein sanftmütig aussehender kleiner Mann, der wie ein Geistlicher wirkte; wie sich herausstellte, hatte er als Wanderprediger gelebt, bis ihm das Licht aufgegangen und er zum Propheten der neuen Weltordnung geworden war. Wie einst die Apostel von der Gastfreundschaft lebend, zog er durchs ganze Land, und fand sich kein Saal, dann predigte er an den Straßenecken. Der andere hatte, als Adams und Jurgis hereinkamen, gerade mit dem Journalisten eine Diskussion geführt, und nach dieser Unterbrechung nahmen die beiden auf Vorschlag des Gastgebers sie wieder auf. Bald hörte Jurgis gebannt zu und fand, er habe hier gewiß den seltsamsten Menschen der Welt vor sich.
    Nicholas Schliemann war gebürtiger Schwede, ein großer, schlanker Mann mit behaarten Händen und struppigem blondem Bart; er war Philosophieprofessor gewesen – bis er, wie er sagte, zu der Einsicht gelangte, daß er nicht nur seine Zeit, sondern auch seinen Charakter verkaufte. So war er dann nach Amerika gegangen. Hier lebte er in einer Dachkammer im Slum-Viertel, wo er den fehlenden Ofen durch einen Vulkan an Energie ersetzte. Er hatte die Zusammensetzung der Lebensmittel studiert und wußte genau, wie viele Eiweißstoffe und Kohlehydrate sein Körper brauchte; außerdem verdreifachte er, wie er sagte, durch wissenschaftlich begründete Kautechnik den Nährwert, so daß er mit einem Kostgeld von täglich nur elf Cent auskam. Jedes Jahr Anfang Juni verließ er Chicago für seine Sommerreise zu Fuß, und kam er zu den Erntefeldern, arbeitete er dort für zweieinhalb Dollar den Tag. Er kehrte erst wieder zurück, wenn er seinen Unterhalt fürs nächste Jahr zusammen hatte: einhundertfünfundzwanzig Dollar. Das, erklärte er, sei das Höchstmaß an Unabhängigkeit, das sich »im Kapitalismus« erreichen läßt. Heiraten komme für ihn
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