Der Dschungel
nicht in Frage – jeder vernünftige Mensch warte mit der Liebe bis nach der Revolution.
Die Beine übereinandergeschlagen, saß er in einem großen Sessel, den Kopf so weit im Schatten, daß man nur zwei funkelnde Lichter sah, wo das Kaminfeuer sich spiegelte. Er sprach ungekünstelt und ohne jegliche Gemütsbewegung; im Stil eines Mathematiklehrers, der seinen Schülern einen geometrischen Lehrsatz erklärt, stellte er so kühne Thesen auf, daß sich einem normalen Zuhörer die Haare sträubten. Und bekannte dann der andere, daß er ihm nicht folgen könne, erläuterte er das Ganze mit einer neuen Behauptung, die noch schockierender war. Auf Jurgis wirkte Schliemann wie ein Gewitter oder ein Erdbeben. Und doch bestand, so merkwürdig das auch klingen mag, zwischen den beiden ein unsichtbarer Draht, und Jurgis konnte der Argumentation fast immer folgen. Unwillkürlich wurde er über die schwierigen Stellen einfach hinweggetragen; es ging in wildem Galopp über Stock und Stein – ein wahrer Mazeppa-Ritt gedanklicher Spekulation.
Schliemann wußte über das ganze Weltall Bescheid und über den Menschen als einen kleinen Teil davon. Er hatte die menschlichen Einrichtungen durchschaut und ließ sie zerplatzen wie Seifenblasen; kaum zu glauben, daß ein einziger Geist so viel Zerstörungskraft enthielt. Gehe es um den Staat? Zweck des Staates sei die Wahrung von Eigentumsrechten, das heißt die Verewigung uralter Gewalt und modernen Betrugs. Oder um die Ehe? Ehe und Prostitution seien zwei Seiten ein und derselben Medaille: Ausbeutung des Geschlechtsgenusses durch den raubgierigen Mann. Zwischen Ehe und Prostitution bestehe lediglich ein Klassenunterschied. Hat eine Frau Geld, könne sie ihre Bedingungen stellen: Gleichberechtigung, Vertrag auf Lebenszeit und Legitimität – das heißt Erbberechtigung – ihrer Kinder. Hat sie kein Geld, sei sie Proletarierin und verkaufe sich, um leben zu können. Dann kam das Thema Religion zur Sprache, die mächtigste Waffe des Erzfeindes. Der Staat kneble den Körper des Lohnsklaven, die Religion aber kneble seinen Geist und vergifte somit den Strom des Fortschritts schon an der Quelle. Der Arbeiter solle seine Hoffnungen auf das Jenseits richten, derweil ihm im Diesseits die Taschen geleert werden; er werde angehalten zu Genügsamkeit, Demut und Gehorsam – kurz, zu all den Pseudotugenden des Kapitalismus. Das Schicksal der Zivilisation entscheide sich in einem letzten Kampf auf Leben und Tod zwischen der Internationale der Roten und der der Schwarzen, also zwischen dem Sozialismus und der katholischen Kirche, beziehungsweise hierzulande dem in stygischer Finsternis befangenen amerikanischen Evangelismus ...
An dieser Stelle schaltete sich der ehemalige Wanderprediger ein, und es kam zu einem lebhaften Wortgefecht. Lucas war nicht das, was man unter einem Gebildeten versteht; er kannte nur seine Bibel, aber die legte er auf Grund echter Lebenserfahrung aus. Man solle doch nicht, wandte er ein, die Religion mit dem verwechseln, was die Menschen daraus gemacht haben! Daß die Kirche jetzt in den Händen der Schacherer liegt, bestreite ja niemand, aber es gebe doch bereits Anzeichen von Widerstand, und in ein paar Jahren werde Genosse Schliemann schon sehen ...
»Freilich«, sagte der andere, »ich habe keine Zweifel, daß in hundert Jahren der Vatikan leugnen wird, jemals gegen den Sozialismus gewesen zu sein, genauso wie er heute leugnet, jemals Galilei gefoltert zu haben.«
»Ich verteidige nicht den Vatikan!« rief Lucas heftig. »Ich verteidige das Wort Gottes – das ein einziger Aufschrei der Menschheit nach Erlösung aus der Gewalt der Unterdrückung ist! Nehmen Sie das vierundzwanzigste Kapitel des Buches Hiob, das ich in meinen Reden immer als die ›Bibel des Fleisch-Trusts‹ zitiere, nehmen Sie die Worte Jesajas – oder die des Heilands selber. Ich meine nicht den eleganten Fürsten unserer korrumpierten und lasterhaften Kunst, nicht den juwelenbesetzten Götzen unserer Feine-Leute-Kirchen – sondern den Jesus der schrecklichen Wirklichkeit, den Mann des Leidens und der Qual, den Ausgestoßenen, den von der Welt Verfemten, der nirgends sein müdes Haupt hatte betten können ...«
»Jesus gestehe ich Ihnen zu«, unterbrach ihn Schliemann.
»Na also!« rief Lucas. »Warum auch sollte Jesus nichts mit seiner Kirche zu tun haben – warum sollten seine Worte und sein Leben nichts gelten bei denen, die sich zu ihm bekennen? In ihm haben wir den ersten Revolutionär
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