Der Dschungel
können. Ein Bischof, dessen Frau gerade Brillantschmuck im Wert von fünfzigtausend Dollar gestohlen worden ist! Noch dazu der salbungsvollste und öligste aller Bischöfe! Ein prominenter und hochgelehrter Bischof! Ein Philanthrop und Freund der Arbeiterklasse – ein Lockvogel der Civic Federation, um den Lohnarbeiter zu chloroformieren!«
Bei diesem kleinen Waffengang waren die anderen Anwesenden stumm geblieben. Doch jetzt nahm Mr. Maynard, der Journalist, die Gelegenheit wahr, um einigermaßen naiv zu bemerken, er habe immer geglaubt, die Sozialisten hätten ihr Programm für die Zukunft fix und fertig; hier aber treffe er nun zwei aktive Parteimitglieder, die sich offenbar in keinem Punkt einig sind. Könnten sie beide ihn vielleicht darüber aufklären, worin sie denn eigentlich übereinstimmen? Das führte dann nach längerer Debatte zur Formulierung zweier sozialistischer Glaubensgrundsätze: Erstens daß die Produktionsmittel zur Herstellung lebenswichtiger Güter Gemeineigentum sein und demokratisch verwaltet werden müssen, und zweitens daß dies nur mittels der klassenbewußten politischen Organisation der Lohnarbeiter zu erreichen sei. Darüber waren sich beide einig, über mehr aber nicht. Für Lucas, den religiösen Eiferer, war der gemeinwirtschaftliche Staat das Neue Jerusalem, das Himmelreich, das man »in sich« trägt. Für den anderen war Sozialismus einfach ein notwendiger Schritt in Richtung auf ein fernes Ziel, den man nicht schnell genug hinter sich bringen könne. Schliemann bezeichnete sich als »philosophischen Anarchisten« und erklärte, ein Anarchist sei jemand, der den Endzweck des menschlichen Daseins in der freien Entfaltung einer jeden Persönlichkeit sieht, uneingeschränkt durch Gesetze außer denen des eigenen Wesens. Da eine einzige Sorte Streichhölzer genügt, um jedermanns Feuer anzuzünden, und auch eine einzige Form von Brot ausreicht, um jedermanns Magen zu füllen, sei es ohne weiteres möglich, die Industrie durch Mehrheitsbeschlüsse zu lenken. Es gebe ja nur eine Erde, und die Menge der materiellen Güter sei begrenzt. Geistiges und moralisches Gut lasse sich hingegen unbeschränkt produzieren, und so könne der eine mehr davon haben, ohne daß ein anderer deshalb weniger haben muß. Folglich könne man das neue proletarische Denken auf die Formel bringen: »Kommunismus in der materiellen Produktion, Anarchismus in der geistigen.« Sobald die Geburtswehen vorüber und die Wunden der Gesellschaft geheilt sind, werde ein einfaches System eingeführt, das jedem Menschen seine Arbeit als Gutschrift und seine Einkäufe als Lastschrift bucht; die Prozesse Produktion, Austausch und Konsumtion würden sich dabei so automatisch regeln, daß man sich ihrer nicht mehr bewußt sein wird als des eigenen Herzschlags. Und dann, erklärte Schliemann, werde sich die Gesellschaft in unabhängige, sich selbst regierende Gemeinschaften von Gleichgesinnten aufgliedern, wie sie heute beispielsweise in Gestalt von Vereinen, Kirchen und politischen Parteien existieren. Nach der Revolution wären alle geistigen, künstlerischen und religiösen Betätigungen der Menschen Angelegenheit solcher »freien Vereinigungen«; romantische Romanciers werden von den Lesern romantischer Romane unterhalten und impressionistische Maler von den Liebhabern impressionistischer Gemälde, und genauso wäre es mit Geistlichen und Wissenschaftlern, mit Publizisten, Schauspielern und Musikern. Will jemand schreiben, malen oder predigen, und findet er niemanden, der für seinen Unterhalt aufkommt, könne er sich den selbst verdienen, indem er einen Teil der Zeit arbeitet. So sei es jetzt ja auch, nur mit dem Unterschied, daß das auf Konkurrenzkampf beruhende Lohnsystem den Menschen zwinge, die ganze Zeit zu arbeiten, um leben zu können, wogegen nach der Abschaffung von Privilegien und Ausbeutung jeder in der Lage sein werde, das, was er zum Leben braucht, durch eine einzige Stunde Arbeit am Tag zu verdienen. Außerdem bestehe das Publikum des Künstlers gegenwärtig aus einer kleinen Minderheit, und diese sei auch noch verdorben beziehungsweise habe durch die erzwungene ständige Konzentration darauf, sich im Wirtschaftskampf zu behaupten, kein Niveau entwickelt. Was für geistige und künstlerische Leistungen vollbracht werden können, wenn die gesamte Menschheit einmal vom Alpdruck des Konkurrenzkampfes befreit ist, davon lasse sich jetzt noch gar keine Vorstellung machen.
Maynard wollte wissen, worauf Dr.
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