Der Dschungel
sich die Füße mit Zeitungen und alten Säcken, die dann, von Blut durchtränkt, sehr bald gefroren, von neuem durchtränkt wurden, abermals gefroren – und immer so fort, bis die Männer am Abend mit wahren Elefantenfüßen umherliefen. Ab und an, wenn die Aufseher nicht hinschauten, sah man sie die Füße bis zu den Knöcheln in einen dampfend warmen Rinderkörper stecken oder quer durch die Halle zu den Heißwasserschläuchen rennen. Am furchtbarsten war, daß die meisten, da sie ja mit Messern arbeiteten, keine Handschuhe tragen konnten. Ihre Arme waren weiß vor Kälte, ihre Hände klamm und gefühllos, und da kam es natürlich zu Unfällen. Außerdem war die Luft von dem heißen Wasser und Blut voller Wrasen, so daß man keine zwei Meter weit sah; und bei den vielen Männern, die in dem an den Schlachtbändern verlangten Tempo hin- und herhetzten, alle mit scharfen Metzgermessern in der Hand – nun, es war schon als Wunder anzusehen, daß nicht mehr Menschen als Rinder geschlachtet wurden.
Mit all dem hätten sie sich vielleicht noch abgefunden, hätten sie nur einen Platz zum Essen gehabt. Jurgis mußte sein Mittag entweder inmitten von dem Gestank einnehmen, in dem er arbeitete, oder aber so wie all seine Kollegen in eine der unzähligen Kneipen eilen, die ihm die Arme entgegenstreckten. Das sich im Westen der Yards hinziehende Stück Ashland Avenue wurde »Whiskey Row« genannt und war in der Tat eine »Schnapsstraße«, denn hier reihte sich Ausschank an Ausschank. In der südlich gelegenen Forty-seventh Street kam auf jeden Häuserblock ein halbes Dutzend, und an der Kreuzung beider Straßen gab es den »Whiskey Point«, ein riesiges Areal mit einer Leimfabrik darauf – umgeben von wohl zweihundert Kneipen.
Man hatte dort freie Wahl: »Heute Erbsensuppe und Kohl«, »Heiße Würstchen mit Sauerkraut. Hereinspaziert!«, »Bohnentopf mit Lamm. Willkommen!« All das konnte man in vielen Sprachen lesen, ebenso auch die phantasievollen und anheimelnden Namen dieser Zufluchtstätten. Da gab es eine »Familienklause« und ein »Kaminstübchen«, ein »Gemütliches Eck« und eine »Traute Quelle« sowie gleich mehrere »Vergnügungspaläste« und »Wunderländer«, »Traumschlösser« und »Liebeslauben«. Wie immer sie sich auch nennen mochten, ganz bestimmt führten sie die Bezeichnung »Gewerkschaftslokal« und zeigten sich betont arbeiterfreundlich. Man fand dort stets einen Platz am warmen Ofen und traf ein paar Bekannte, mit denen man sich unterhalten und lachen konnte. Nur eine Bedingung war daran geknüpft: Man mußte etwas trinken. Ging man hinein, ohne das zu tun, wurde man unverzüglich wieder hinausgewiesen, und folgte man der Aufforderung nicht schnell genug, stand zu befürchten, daß man eine Bierflasche über den Kopf geknallt bekam. Die Männer hielten sich jedoch alle an diese Spielregel und tranken; sie bildeten sich ein, dadurch etwas umsonst zu kriegen – denn sie brauchten nicht mehr als ein Glas zu bestellen und konnten sich dafür dann kostenlos mit einem guten warmen Mittagessen vollschlagen. In Praxis war das freilich nicht ganz so billig, denn bestimmt traf man dort einen Freund, der einen ausgab, wofür man sich natürlich revanchieren mußte. Dann kam noch einer hinzu – und schließlich waren ein paar Schnäpse Medizin für einen schwer arbeitenden Mann. Kehrte er zurück, fröstelte ihn weniger und machte er sich mit neuem Mut wieder an seine Arbeit; deren stumpfsinnige Eintönigkeit ging ihm nicht mehr so auf die Nerven – es kamen ihm Gedanken, und er sah seine Lage in weniger trübem Licht. Aber auf dem Weg nach Hause befiel ihn das Frösteln wahrscheinlich wieder, und so mußte er ein- oder zweimal einkehren, um sich gegen die grimmige Kälte aufzuwärmen. Da es auch in diesem Lokal kostenloses Essen gab, konnte es geschehen, daß er erst spät zum Abendbrot heimkam oder auch gar nicht. Vielleicht zog dann seine Frau los, ihn zu suchen, und ihr wurde ebenfalls kalt; womöglich hatte sie ein paar der Kinder dabei – und so konnte eine ganze Familie der Trunksucht zutreiben. Wie um den Teufelskreis zu schließen, zahlten alle Fabrikanten ihre Leute nur in Schecks aus, lehnten jede Bitte um Bargeld ab; und wo ließ sich in Packingtown ein Scheck bequemer einlösen als in einer Kneipe, wo man sich für diese Gefälligkeit dann erkenntlich zeigte, indem man einen Teil des Geldes in Getränke umsetzte?
Vor all dem wurde Jurgis durch Ona bewahrt. Er trank nie mehr als das
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