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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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beim Sturm auf die Bank mitgemacht hatten, würden keine Einlagen mehr angenommen. Also mußte Marija ihre Dollars heimtragen, wobei sie sich in einem fort rechts und links umsah, jeden Augenblick damit rechnend, überfallen zu werden. Sie langte zwar sicher zu Hause an, aber das bedeutete noch keine Lösung des Problems. Bis sie eine andere Bank fand, blieb ihr nichts weiter übrig, als die Münzen in ihre Kleider einzunähen, und so lief Marija eine gute Woche lang schwer mit Silber beladen herum und getraute sich nicht, die Straße vor dem Haus zu überqueren, weil Jurgis ihr gesagt hatte, sie würde bis über den Kopf im Schlamm versinken. Mit ihrer Last machte sie sich auf den Weg zu den Yards, wieder voller Angst – diesmal, ob sie ihren Arbeitsplatz verloren habe. Aber zum Glück hatten rund zehn Prozent der Arbeiter von Packingtown ihre Ersparnisse bei jener Bank gehabt, und es wäre unpraktisch gewesen, so viele auf einmal zu entlassen. Ausgelöst worden war die Panik, weil ein Polizist versucht hatte, in der Kneipe neben der Bank einen Betrunkenen festzunehmen, was zu jener Stunde, da die Leute alle auf dem Weg zur Arbeit waren, einen Auflauf verursachte und so den »Run« ins Rollen brachte.
    Um diese Zeit begannen auch Jurgis und Ona ein Sparkonto. Sie hatten nicht nur all ihre Schulden bei Jonas und Marija glattgemacht, sondern auch die Möbel fast abbezahlt, konnten also eine Kleinigkeit für Notzeiten zurücklegen. Solange sie jeder wöchentlich neun oder zehn Dollar heimbrachten, kamen sie gut über die Runden. Außerdem kehrten die Wahlen wieder, und Jurgis holte dabei einem Reinverdienst in Höhe eines halben Wochenlohns heraus. In diesem Jahr lagen die Parteien Kopf an Kopf, und das Echo des Wahlkampfes hallte sogar bis nach Packingtown herüber. Die beiden rivalisierenden Gruppen von Jägern nach Posten, wo es etwas abzusahnen gab, mieteten Säle, veranstalteten Feuerwerke und hielten Reden, um die Leute für ihre Sache zu interessieren. Obwohl Jurgis nicht alles verstand, wußte er zu dieser Zeit schon genug, um sich darüber klar zu sein, daß es nicht richtig ist, seine Stimme zu verkaufen. Da es jedoch alle taten und seine Weigerung nicht das geringste am Wahlausgang geändert hätte, wäre der Gedanke, es nicht zu tun – wenn er ihn überhaupt gehabt hätte geradezu absurd erschienen.
     
    Kalte Winde und kürzer werdende Tage kündigten ihnen an, daß der Winter wieder im Anrücken war. Die Erholungspause schien ihnen zu kurz gewesen – sie hatten gar nicht richtig Zeit gehabt, sich für ihn zu rüsten; doch er kam trotzdem, unerbittlich, und die Augen des kleinen Stanislovas nahmen wieder ihren verängstigten Ausdruck an. Auch Jurgis wurde bange, denn er wußte, Ona würde dieses Jahr der Kälte und dem Schnee nicht gewachsen sein. Was, wenn eines Tages ein Blizzard hereinbrach und keine Bahn mehr fuhr? Dann könnte Ona nicht zu Brown gelangen und würde am nächsten Tag feststellen müssen, daß man ihren Arbeitsplatz einer anderen gegeben hatte, die näher wohnte und verläßlicher war!
    In der Woche vor Weihnachten hatten sie den ersten großen Schneesturm, und da erwachte in Jurgis ein wahrer Löwenmut. Vier Tage lang blieb die Straßenbahn in der Ashland Avenue außer Betrieb, und in dieser Zeit erfuhr Jurgis zum ersten Mal im Leben, was es heißt, gegen wirkliche Widerstände angehen zu müssen. Er hatte auch früher schon Schwierigkeiten zu überwinden gehabt, aber das war ein Kinderspiel gewesen im Vergleich zu dem jetzigen Kampf auf Leben und Tod. Am ersten Morgen brachen sie zwei Stunden vor Tagesanfang auf; er trug Ona, die in Decken eingehüllt war, wie einen Sack Mehl über der Schulter, und der unter seiner Vermummung kaum noch zu sehende kleine Stanislovas hielt sich an seinem Jackensaum fest. Tobender Wind peitschte Jurgis ins Gesicht, und es herrschten zwanzig Grad Kälte; bei jedem Schritt sank er bis zu den Knien ein, in manchen Wehen sogar bis zu den Achseln. Der Schnee hielt seine Füße fest und suchte ihn zu Fall zu bringen, türmte sich vor ihm zu einer Wand auf, um ihm zum Umkehren zu zwingen, doch Jurgis warf sich ihm entgegen, stürzte sich in ihn hinein, keuchend und vor Wut schnaubend wie ein angeschossener Büffel. So erkämpfte er sich Meter für Meter den Weg, und als er endlich bei Brown anlangte, taumelte er und konnte kaum noch aus den Augen sehen; nach Luft ringend, lehnte er sich gegen einen Pfeiler und dankte Gott, daß die Rinder an diesem Tag mit

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