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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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daß er nicht hätte grübeln können. Denn er hatte ja keine der Ablenkungen, die Gehunfähige gewöhnlich haben; er konnte nur daliegen und sich von einer Seite auf die andere wälzen. Ab und zu verfiel er ins Fluchen, ohne irgendwelche Rücksichten zu nehmen; hin und wieder gewann auch die Ungeduld in ihm die Oberhand, so daß er unbedingt aufstehen wollte und die arme Elzbieta ihm das verzweifelt ausreden mußte. Elzbieta war die meiste Zeit allein mit ihm; ganze Stunden setzte sie sich zu ihm, bemüht, seine düstere Stimmung zu vertreiben und ihn auf andere Gedanken zu bringen. Manchmal konnten die Kinder der Kälte wegen nicht zur Schule gehen, und dann mußten sie in der Küche spielen, wo Jurgis lag, weil das der einzige halbwegs warme Raum im Haus war. Da wurde Jurgis unangenehm brummig wie ein gereizter Bär, was man ihm aber nicht verübeln konnte, denn er hatte genug Sorgen, und wenn er mal versuchen wollte, ein bißchen zu schlafen, dann aber von lärmenden Kindern gestört wurde, war das wirklich hart.
    Eine große Hilfe für Elzbieta in dieser Zeit bildete der kleine Antanas, ja es ließe sich schwer sagen, wie sie es hätte schaffen sollen, wäre nicht der Junge gewesen. Es war Jurgis’ einziger Trost während des langen Eingesperrtseins, daß er jetzt Muße hatte, sein Kind zu beobachten. Elzbieta stellte den Wäschekorb, in dem das Baby schlief, neben seine Matratze, und auf den Ellbogen gestützt, betrachtete Jurgis es stundenlang und träumte dabei vor sich hin. Dann schlug der Kleine, der jetzt schon anfing, seine Umwelt wahrzunehmen, die Augen auf und lächelte – und wie er lächelte! Da vergaß Jurgis seinen Kummer und war glücklich, weil er in einer Welt lebte, in der es etwas so Schönes gab wie das Lächeln des kleinen Antanas, und weil eine solche Welt im Kern doch gut sein mußte. Der Junge werde seinem Vater mit jeder Stunde ähnlicher, sagte Elzbieta, und sie sagte es sehr oft, denn sie sah, daß es Jurgis freute; die verzagte arme Frau überlegte Tag und Nacht, wie sie den ans Lager gefesselten Riesen, der ihrer Obhut anvertraut war, bei Laune halten könnte. Jurgis, der nichts von den weiblichen Verstellungskünsten wußte, die so alt sind wie die Welt, schluckte den Köder und strahlte vor Freude; dann hielt er seinen Finger vor Antanas’ Augen, führte ihn hin und her und lachte vergnügt, wenn er sah, daß das Baby ihm folgte. Kein Heimtier kann so faszinierend sein wie ein Baby; der Kleine schaute ihn so unheimlich ernst an, daß Jurgis rief: »Palauk! Sieh doch, Muma, er kennt seinen Papa! Wirklich, das tut er! Tu mano szirdele, mein Herzchen, du!«

12
    Drei Wochen lag Jurgis fest. Die Verstauchung war äußerst hartnäckig; die Schwellung wollte nicht zurückgehen, und auch die Schmerzen hielten an. Schließlich aber wurde er zu ungeduldig und begann, jeden Tag ein bißchen umherzulaufen, wobei er sich einredete, es gehe ihm schon besser. Taub gegen alle Einwände, erklärte er nach drei oder vier Tagen, nun wieder arbeiten gehen zu wollen. Er humpelte zur Straßenbahn, und als er zu Brown kam, stellte sich heraus, daß der Meister ihm seinen Arbeitsplatz freigehalten hatte – das heißt, er jagte den in der Zwischenzeit angeheuerten armen Teufel hinaus in den Schnee. Immer wieder zwangen die Schmerzen Jurgis, eine Pause einzulegen, doch er hielt bis fast eine Stunde vor Feierabend durch. Dann aber mußte er sich eingestehen, daß er nicht weitermachen konnte, ohne umzukippen; es brach ihm schier das Herz, und er stand gegen einen Pfeiler gelehnt und weinte wie ein Kind. Zwei Kollegen halfen ihm zur Bahn, und nach dem Aussteigen mußte er sich hinsetzen und dort im Schnee warten, bis ihn jemand holen kam.
    Sie steckten ihn also wieder ins Bett und ließen – was sie gleich zu Anfang hätten tun sollen – einen Arzt kommen. Der diagnostizierte eine böse Sehnenzerrung, die ohne Behandlung nie wieder in Ordnung kommen würde. Jurgis hielt sich an beiden Bettkanten fest, biß die Zähne zusammen und wurde kreidebleich vor Schmerz, während der Arzt an dem geschwollenen Knöchel zog und drehte. Beim Weggehen verordnete der Doktor ihm zwei Monate Bettruhe und sagte, wenn er vorher arbeiten geht, könne er sich fürs ganze Leben zum Krüppel machen.
    Drei Tage danach gab es einen weiteren schweren Blizzard, und Jonas, Marija, Ona und der kleine Stanislovas machten sich eine Stunde vor Tagesanbruch gemeinsam auf den Weg und versuchten, sich zu den Yards durchzukämpfen. Gegen

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