Der Dschungel
Verspätung in die Schlachthalle kamen. Am Abend war es dann wieder das gleiche, und da Jurgis nie sagen konnte, wann er Schluß haben würde, machte er mit einem Kneipier aus, daß Ona bei ihm im Lokal in einer Ecke sitzen und auf ihn warten dürfe. Einmal war es schon elf Uhr und pechschwarze Nacht, aber sie schafften es trotzdem, heil nach Hause zu kommen.
Dieser Schneesturm brachte so manchen um sein Brot, denn die Menge der Arbeitssuchenden draußen war größer als je, und die Fabrikanten warteten nicht lange auf einen, der fehlte. Als alles vorüber war, lachte Jurgis das Herz: Er war dem Feind entgegengetreten und hatte ihn bezwungen, fühlte sich nun als Herr über sein Schicksal. Ähnlich mag einem König des Waldes zumute sein, der in ehrlichem Kampf seine Feinde überwunden hat – und dann nachts in eine hinterhältige Falle gerät.
Lebensgefährlich wurde es in den Schlachthallen immer dann, wenn ein Rind ausbrach, was besonders bei jungen Ochsen vorkam. In der Hetze des verlangten Tempos passierte es mitunter, daß die Wand der Tötefalle zu früh hochgezogen wurde und das darin zusammengebrochene Tier hinausglitt, noch ehe es ganz betäubt war, so daß es sich wieder erheben konnte und nun Amok lief. Dann erscholl ein gellender Warnschrei – und die Männer ließen alles fallen und stürzten hinter den nächsten Pfeiler, wobei hier und da welche auf dem glitschigen Boden ausrutschten und einer über den anderen fiel. Das war schon schlimm genug im Sommer, wenn man sehen konnte, im Winter aber blieb einem das Herz stehen, denn da war die Halle so voll Wrasen, daß die Sicht keine anderthalb Schritte weit reichte. Gewiß, der Ochse war meist blind vor Angst und nicht wirklich darauf aus, jemanden anzugreifen, aber wie leicht konnte man in ein Messer hineinlaufen, da ja nahezu jeder eins in der Hand hatte! Und dann kam auch noch der Hallenmeister mit einem Gewehr angerannt und begann, wild draufloszuballern!
Bei einem solchen Tumult geriet Jurgis in seine Falle. Anders kann man es nicht nennen; es war so grausam und so ganz und gar nicht vorauszusehen. Zuerst nahm er kaum Notiz davon, denn es war ja nur ein ganz leichter Unfall, nichts weiter, als daß er sich beim Beiseitespringen den Knöchel verknackst hatte. Er verspürte zwar einen stechenden Schmerz, doch da er nicht zimperlich war, widmete er dem kaum Beachtung. Auf dem Heimweg aber merkte er, daß es doch ziemlich weh tat, und am nächsten Morgen zeigte der Knöchel eine starke Schwellung, war fast doppelt so dick geworden, und Jurgis kam mit dem Fuß nicht in den Schuh hinein. Selbst da fluchte er bloß kurz, umwickelte ihn mit alten Lappen und humpelte zur Straßenbahn. Zufällig herrschte an diesem Tag bei Brown reger Betrieb, und den ganzen Vormittag hinkte Jurgis mit seinem schmerzenden Fuß einher. In der Mittagspause wurde er vor Schmerzen ohnmächtig, und nach ein paar weiteren Stunden konnte er einfach nicht mehr und mußte es dem Aufseher sagen. Der herbeigeholte Betriebsarzt untersuchte den Fuß und schickte Jurgis dann heim und ins Bett, wobei er hinzufügte, durch seinen Leichtsinn habe er sich eingebrockt, vielleicht monatelang liegen zu müssen. Es sei kein Unfall, für den die Firma haftbar gemacht werden kann – und damit war die Sache für den Arzt erledigt.
Irgendwie schaffte es Jurgis nach Hause. Elzbieta half ihm ins Bett und machte einen kalten Umschlag um seinen verletzten Fuß; sie gab sich alle Mühe, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Als am Abend die anderen heimkamen, fing sie sie draußen ab und erzählte ihnen, was passiert war, und auch sie setzten eine heitere Miene auf und sagten zu Jurgis, es dauere ja sicher bloß eine Woche oder so, und er brauche sich keine Sorgen zu machen.
Doch nachdem sie ihn zum Einschlafen gebracht hatten, setzten sie sich am Küchenfeuer zusammen und besprachen angstvoll flüsternd die Lage. Es stehe ihnen ganz klar eine schlimme Zeit bevor. Jurgis und Ona hätten nur an die sechzig Dollar auf der Bank, und es wär jetzt die flaue Saison. Jonas und Marija würden vielleicht bald bloß noch das Kostgeld verdienen, und darüber habe die Familie dann nichts weiter als Onas Lohn und das bißchen von dem Jungen. Die Miete müsse bezahlt werden, außerdem ständen noch einige Möbelraten an, ferner sei gerade die Versicherung fällig, und jeden Monat brauchten sie einen Sack Kohlen nach dem andern. Es sei jetzt Januar, also tiefster Winter, die denkbar schlechteste Zeit, in
Weitere Kostenlose Bücher