Der Dschungel
Not zu geraten. Es kämen wieder Schneestürme, und wer solle dann Ona zur Arbeit tragen? Wahrscheinlich, ja ganz sicher werde sie ihre Stelle verlieren. Da begann auch der kleine Stanislovas zu jammern: Was werde nun mit ihm?
Es war furchtbar, daß ein an sich so gerinfügiger Unfall, wie er jedem zustoßen kann, soviel Leid nach sich zog. Die Verbitterung darüber bildete Jurgis’ tägliche Nahrung. Es nutzte nichts, daß die anderen ihm etwas vorzumachen suchten; er war sich über die Lage genauso klar wie sie und wußte, daß die Familie regelrecht verhungern konnte. Diese Sorge verzehrte ihn im wahrsten Sinne des Wortes – schon nach zwei, drei Tagen sah er richtig abgehärmt aus. Für einen kräftigen Mann wie ihn, einen Kämpfer, war es auch wirklich zum Verrücktwerden, so hilflos daliegen zu müssen – ganz die alte Geschichte vom gefesselten Prometheus. Während Jurgis Stunde um Stunde auf seinem Bett lag, bewegten ihn Gefühle, wie er sie bis dahin nicht gekannt hatte. Bisher war ihm das Leben eine Freude gewesen – es legte einem zwar Prüfungen auf, jedoch keine, die ein Mann nicht zu bewältigen vermochte. Jetzt aber kam, wenn er sich nachts von einer Seite auf die andere wälzte, ein gräßliches Gespenst ins Zimmer geschlichen, bei dessen Anblick es ihm kalt über den Rücken lief und ihm die Haare zu Berge standen. Es war, als sähe er die Welt unter seinen Füßen wegsacken, als stürzte er in einen bodenlosen Abgrund und in gähnende Schlünde der Verzweiflung. Es mochte also doch wahr sein, was die anderen ihm über das Leben erzählt hatten, nämlich daß dafür mitunter selbst die besten Kräfte eines Mannes nicht auslangten. Es mochte also wahr sein, daß er, so sehr er sich auch anstrengte und abrackerte, am Ende doch scheiterte und zugrunde ging! Der Gedanke daran lag wie eine eiskalte Hand auf seinem Herzen – der Gedanke, daß er und seine Lieben hier, in dieser grausigen Heimstatt aller Schrecken, liegen und vor Hunger und Kälte umkommen konnten, ohne daß ein Ohr ihre Hilfeschreie hörte und eine helfende Hand sich ihnen entgegenstreckte! Ja, es war so, war wirklich so: In dieser riesigen Stadt mit ihrer Fülle aufgehäufter Reichtümer konnte man noch genauso von den reißenden Kräften der Natur zu Tode getrieben werden wie einst zur Zeit der Höhlenmenschen.
Ona verdiente jetzt an die dreißig Dollar im Monat und Stanislovas etwa dreizehn. Dazu kam das Kostgeld von Jonas und Marija, rund fünfundzwanzig Dollar. Nach Abzug der Miete, der Zinsen und der Möbelraten blieben ihnen sechzig Dollar, wovon jedoch noch zehn für Kohlen abgingen. Sie verzichteten auf alles, was nicht unbedingt lebensnotwendig war; sie liefen in alten, fadenscheinigen Sachen umher, die sie nicht vor der Kälte schützten, und wenn die Schuhe der Kinder entzweigingen, banden sie sie mit Strippe zusammen. Ona, ohnehin nicht richtig gesund, schadete sich noch mehr, indem sie auch bei schlechtem Wetter zu Fuß zur Arbeit ging, statt mit der Bahn zu fahren. Obwohl sie doch wirklich nichts weiter als das Essen kauften – mit fünfzig Dollar monatlich ließ sich einfach nicht auskommen. Vielleicht wäre es gegangen, hätten sie nur irgendwo unverfälschte Lebensmittel und zu anständigen Preisen kriegen können; vielleicht auch schon, wenn sie gewußt hätten, was kaufenswert war – aber da hatten sie so bejammernswert wenig Ahnung! Denn hier in diesem neuen Land war ja alles anders, auch das Essen. Sie waren viel Räucherwurst gewöhnt, aber woher sollten sie wissen, daß die, die sie hier kauften, nicht die gleiche war wie die daheim – daß ihre Farbe von Chemikalien herrührte und ihr Räuchergeschmack ebenfalls und daß sie obendrein mit Kartoffelpülpe gestreckt war? Unter Pülpe versteht man den bei der Stärke- und Spiritusgewinnung aus Kartoffeln anfallenden Rückstand; ihr Nährwert ist gleich Null, und da in Europa ihre Verwendung als Zusatz für Viktualien unter Strafe steht, werden jährlich Tausende Tonnen davon in Pulverform nach Amerika verschifft. Es war erstaunlich, welche Unmengen solcher Lebensmittel elf hungrige Menschen täglich brauchten. Sie mit einem Dollar fünfundsiebzig pro Tag satt kriegen zu wollen war ein vergebliches Unterfangen, und so mußte jede Woche das klägliche kleine Sparkonto angegriffen werden. Da es auf ihren Namen lief, konnte Ona das vor ihrem Mann verheimlichen und den Kummer darüber allein tragen.
Für Jurgis wäre es besser gewesen, richtig krank zu sein, so
Weitere Kostenlose Bücher