Der Dschungel
unwiderruflich zum Familienvater, erstickte in ihm auch den letzten Rest eines vielleicht noch vorhandenen Wunsches, abends in eine Kneipe zu gehen und mit den Männern dort zu schwatzen. Jetzt kannte er nichts Schöneres als dasitzen und den Kleinen anschauen. Das war sehr bemerkenswert, denn bislang hatten Babies ihn nie interessiert. Aber schließlich war dies ja auch ein ganz besonderes Baby. Es hatte die strahlendsten schwarzen Äuglein, die man sich vorstellen konnte, und den ganzen Kopf voller schwarzer Löckchen; alle sagten, es sei dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten – was Jurgis faszinierend fand. Schon erstaunlich genug, daß dieses winzige Lebewesen überhaupt auf die Welt gekommen war, aber daß es dazu noch eine komische Nachbildung der Nase seines Vaters mitgebracht hatte, war geradezu unheimlich.
Vielleicht, so dachte Jurgis, sollte das zeigen, daß der Junge ihm gehörte, ihm und Ona, damit sie sein ganzes Leben für ihn sorgten. Niemals hatte Jurgis etwas besessen, was auch nur annähernd so interessant gewesen wäre – ein Kind zu haben war doch, wenn man darüber nachdachte, einfach wunderbar. Dieses Würmchen würde heranwachsen, zum Mann werden, zu einem Menschen mit eigener Persönlichkeit und eigenem Willen! Gedanken dieser Art bewegten Jurgis ständig, erfüllten ihn mit seltsamer und fast schon schmerzhafter Erregung. Er war enorm stolz auf den kleinen Antanas; alles, was mit ihm gemacht wurde, ob Waschen, Wickeln, Fläschchengeben oder Schlafenlegen, erregte seine Neugier, und er stellte dazu die unmöglichsten Fragen. Er brauchte eine ganze Weile, bis er seinen Schrecken über die unglaublich kurzen Beine des kleinen Kerls überwunden hatte.
Leider war Jurgis wenig Muße für sein Kind vergönnt; nie hatte er die Ketten an ihm so stark empfunden wie jetzt. Wenn er abends heimkam, schlief der Kleine schon, und es bestand nur geringe Aussicht, daß er aufwachte, bevor Jurgis selber schlafen gehen mußte; und morgens war keine Zeit, ihn lange anzuschauen, so daß dem Vater praktisch nur der Sonntag blieb. Noch härter war es für Ona. Der Arzt hatte zwar gesagt, sie solle zu Hause bleiben und stillen, und zwar sowohl um ihrer eigenen wie um des Kindes Gesundheit willen, aber das konnten sie sich nicht erlauben, und so mußte sie es Teta Elzbieta überlassen, den Säugling mit dem bläulichweißen Gift zu nähren, das in den Lebensmittelläden hier Milch genannt wurde. Ihr Wochenbett kostete sie nur sechs Tage Lohnausfall – am zweiten Montag ging sie bereits wieder arbeiten, und Jurgis konnte sie lediglich überreden, mit der Straßenbahn hinzufahren und ihn hinterherrennen zu lassen, um sie dann nach dem Aussteigen zu ihrem Saal rüberzubringen. Danach gehe es schon, sagte sie; es sei ja keine Anstrengung, den ganzen Tag bloß zu sitzen und Schinken einzunähen, und wenn sie noch länger wartet, könne es passieren, daß ihre gräßliche Aufseherin ihre Stelle an jemand anders vergibt. Das wäre jetzt eine schlimmere Katastrophe als je zuvor, fuhr Ona fort, weil doch nun der kleine Antanas da ist. Seinetwegen müßten sie sich alle noch mehr anstrengen. Es sei eine so große Verantwortung – ihm solle es ja später einmal nicht ebenso schlecht gehen wie ihnen. Genau das war auch Jurgis’ allererster Gedanke gewesen; er hatte die Fäuste geballt und sich zu neuem Kampf gerüstet, um diesem kleinen Menschenkind auch ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen.
Also ging Ona wieder zu Brown zurück, rettete ihren Arbeitsplatz sowie einen Wochenlohn – und zog sich eine der tausend Krankheiten zu, die unter dem Sammelnamen »Frauenleiden« laufen. Richtig gesund wurde sie niemals mehr. Es ist schwer in Worte zu fassen, was das für Ona bedeutete; so schlimm war es doch gar nicht, was sie getan hatte, und deshalb kamen weder sie noch jemand anders auf den Gedanken, in diesen unverhältnismäßig schweren Folgen die Quittung dafür zu sehen. Frauenleiden, das hieß für Ona nicht Untersuchung durch einen Spezialisten mit nachfolgender Behandlung und vielleicht ein, zwei Operationen; für sie hieß es einfach Kopfweh, Kreuzschmerzen, Mattsein, Niedergeschlagenheit und, wenn sie bei Regen zur Arbeit gehen mußte, auch noch Neuralgien. In Packingtown hatten die meisten arbeitenden Frauen dieselben Beschwerden und aus denselben Gründen, und man hielt es nicht für nötig, deshalb zum Arzt zu gehen; statt dessen versuchte Ona es mit einer von ihren Kolleginnen empfohlenen
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