Der Dschungel
Mittag kamen Ona und Stanislovas zurück. Der Junge schrie vor Schmerzen; er schien sich sämtliche Finger erfroren zu haben. Die beiden hatten unterwegs aufgeben müssen, waren beinahe in einer Schneewehe umgekommen. Sie wußten sich nicht anders zu helfen, als die erfrorenen Finger ans Feuer zu halten, und das tat Stanislovas so weh, daß er stundenlang von einem Bein aufs andere hüpfte, bis Jurgis schließlich aus der Haut fuhr, irrsinnig zu fluchen anfing und erklärte, wenn er nicht aufhört, bringe er ihn um. Den ganzen Tag und die Nacht über war die Familie außer sich vor Angst, daß Ona und Stanislovas ihre Stellen losgeworden sein könnten, und am Morgen brachen sie noch früher auf, nachdem Jurgis den Jungen mit einem Stock verprügelt hatte. In so einem Fall konnte nicht gefackelt werden, denn es ging um die Existenz, und von dem kleinen Stanislovas war nicht die Einsicht zu erwarten, daß es immer noch besser sei, sich im Schnee Erfrierungen zu holen, als wenn er seinen Platz an der Schmalzmaschine verlor. Ona war überzeugt, ihre Arbeit eingebüßt zu haben, doch als sie dann, schon ganz entmutigt, bei Brown ankam, stellte sich heraus, daß die Aufseherin gestern selber nicht erschienen war und daher Milde walten lassen mußte.
Dieser Zwischenfall hatte zur Folge, daß dem Jungen an drei Fingern die ersten Glieder lebenslang steif blieben und daß er hinfort bei Schneefall immer erst verwamst werden mußte, weil er sich anders nicht dazu bringen ließ, zur Arbeit zu gehen. Das Verwamsen hatte Jurgis zu besorgen, und da ihm dabei sein Fuß weh tat, schlug er erst recht zu; aber sanfter wurde seine Stimmung dadurch auch nicht. Es heißt, der beste Hund werde bösartig, wenn er ständig an der Kette liegen muß, und so war es auch mit Jurgis; er hatte den lieben langen Tag nichts weiter zu tun, als dazuliegen und sein Los zu verfluchen, und es gab Zeiten, da wollte er einfach alles verfluchen.
Doch hielten die nie sehr lange an, denn wenn Ona zu weinen anfing, konnte Jurgis nicht zornig bleiben. Der arme Kerl sah wie ein aus einem Spukschloß vertriebenes Gespenst aus mit seinen eingefallenen Wangen und den langen schwarzen Haaren, die ihm bis in die Augen hingen; er war zu niedergeschlagen, sie zu schneiden oder überhaupt auf sein Äußeres zu achten. Seine Muskeln schwanden dahin; was ihm an Fleisch auf den Knochen blieb, war weich und schlaff. Er aß schlecht, und für Leckerbissen, die seinen Appetit angeregt hätten, hatten sie kein Geld. Ganz gut, wenn er nichts esse, sagte er, dann könnten sie sparen. Ende März war ihm Onas Sparbuch in die Hände gefallen, und er hatte gesehen, daß alles, was sie noch besaßen, drei Dollar waren.
Aber der wohl härteste Schlag als Folge dieser langen, zermürbenden Zeit war, daß sie ein weiteres Familienmitglied verloren: Bruder Jonas verschwand. Eines Samstagabends kam er nicht nach Hause, und all ihre Bemühungen, ihn aufzuspüren, blieben erfolglos. Sein Aufseher bei Durham erklärte, er habe seinen Lohn abgeholt und gekündigt. Das mußte nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen, denn manchmal sagten sie das auch, wenn es einen tödlichen Unfall gegeben hatte; es war für alle Beteiligten der einfachste Weg, sich aus der Affäre zu ziehen. War zum Beispiel ein Arbeiter in einen der großen Kessel gefallen und zu Feinschmalz oder Super-Doppeldünger zerkocht worden, was hätte es da für einen Sinn gehabt, das an die Öffentlichkeit dringen zu lassen und seine Familie unglücklich zu machen? Weit eher war anzunehmen, daß Jonas sie verlassen hatte, um sein Glück auf der Landstraße zu versuchen. Unzufrieden war er schon seit langem gewesen, und das nicht ohne Grund. Er zahlte reichlich Kostgeld und mußte doch in einer Familie leben, in der niemand satt wurde. Und Marija schoß stets ihr ganzes Geld zu, so daß er natürlich immer das Gefühl hatte, man erwarte das von ihm ebenfalls. Dann ewig die plärrenden Bälger, und wo man auch hinsah, überall nur Dürftigkeit, Not und Elend – um das alles ohne Murren auszuhalten, mußte man schon etwas von einem Helden haben. Aber Jonas war ganz und gar kein Held, sondern einfach ein wettergegerbter alter Bursche, der nach der Arbeit gern sein gutes Essen hatte und dann vorm Schlafengehen in der Ofenecke sitzen wollte, um in Ruhe ein Pfeifchen zu schmauchen. Hier gab es gar keinen Ofen, und am Küchenherd war es den Winter hindurch selten warm genug, um gemütlich zu sein. Was war also wahrscheinlicher, als
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