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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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kaum einen Schritt weit sehen. Hatte er einen Karren vollgeschaufelt, mußte er um sich tasten, bis er den nächsten fand. Natürlich dauerte es keine fünf Minuten, und er war von oben bis unten voller Dünger; man hatte ihm zwar einen Schwamm gegeben, um ihn sich vor den Mund zu binden, damit er überhaupt atmen konnte, aber daß sich seine Lippen und Lider verklebten und seine Ohren verstopften, ließ sich nicht verhindern. Er sah aus wie ein Gespenst im Dämmerlicht – war von Kopf bis Fuß so braun geworden wie das Gebäude, wie alles darin und übrigens auch alles draußen in hundert Meter Umkreis. Die Halle mußte nämlich offengelassen werden, und wenn es windig war, ging Durham & Co. eine Menge Dünger verloren.
    Jurgis arbeitete in Hemdsärmeln, und bei den herrschenden fünfunddreißig Grad Hitze drangen ihm die Phosphate in alle Poren. Binnen fünf Minuten hatte er Kopfschmerzen, und nach einer Viertelstunde schwanden ihm fast die Sinne. Das Blut pochte in seinem Kopf wie eine hämmernde Maschine; er verspürte einen bohrenden Schmerz unter der Schädeldecke, und die Hände wollten ihm kaum noch gehorchen. Doch er dachte an seine vier Monate Arbeitslosigkeit, riß sich zusammen und mühte sich verbissen weiter. Eine halbe Stunde später erbrach er sich – erbrach sich so lange, bis es ihm vorkam, als wären seine sämtlichen Eingeweide zerrissen. Man könne sich an die Düngerfabrik gewöhnen, hatte der Aufseher gesagt, es gehöre nur ein eiserner Wille dazu, aber Jurgis merkte jetzt, daß es eher auf einen eisernen Magen ankam.
    Am Ende dieses schrecklichen Tages konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Er mußte sich ab und zu gegen eine Hauswand lehnen, um wieder zu sich zu kommen und sich zurechtzufinden. Die meisten anderen Arbeiter gingen nach Feierabend erst mal in die Kneipe – sie schienen Dünger mit Klapperschlangengift gleichzusetzen. Jurgis aber fühlte sich zu elend, als daß ihm nach Alkohol zumute gewesen wäre; er konnte gerade noch zur Haltestelle wanken und das Trittbrett der Straßenbahn hinaufstolpern. Er hatte Humor, und später, als er sich längst eingewöhnt hatte, machte er sich einen Spaß daraus, zu beobachten, was geschah, wenn er in eine Straßenbahn stieg. Jetzt aber ging es ihm zu schlecht, um es zu bemerken – wie die Leute nach Luft zu schnappen und zu hüsteln begannen, wie sie sich ihre Taschentücher vor die Nase hielten und ihn mit zornigen Blicken bedachten. Jurgis nahm nur wahr, daß der Mann vor ihm sofort aufstand und ihm einen Platz überließ, daß nach einer halben Minute auch die beiden Leute neben ihm aufstanden und daß nach einer ganzen Minute der vorher überfüllte Wagen fast leer war – jene Fahrgäste, die auch draußen auf der Plattform keinen Platz gefunden hatten, waren ausgestiegen, um lieber zu Fuß zu gehen.
    Natürlich hatte Jurgis beim Heimkommen das Haus im Nu in eine Miniatur-Düngerfabrik verwandelt. Das Zeug saß einen halben Zoll tief in seiner Haut – sein ganzer Organismus war so davon durchsetzt, daß es einer vollen Woche bedurft hätte, es wieder herauszubekommen, und nicht allein durch Abschrubben, sondern auch durch viel Bewegung in frischer Luft. In seinem Zustand war er mit nichts zu vergleichen, was Menschen kennen, außer vielleicht mit jener Substanz, die jüngst von Wissenschaftlern entdeckt worden sein und unbegrenzt Energie ausstrahlen soll, ohne selber im mindesten an Kraft einzubüßen. Er stank so, daß alles Essen auf dem Tisch danach schmeckte und die ganze Familie sich übergeben mußte; er selbst konnte drei Tage lang nichts im Magen behalten – mochte er sich auch die Hände waschen und mit Messer und Gabel essen, sein Mund und seine Kehle waren immer noch voll von dem Gift.
    Dennoch hielt Jurgis durch! Trotz der rasenden Kopfschmerzen schleppte er sich zur Fabrik, ging an seinen Arbeitsplatz und machte sich inmitten der Staubwolken ans Schaufeln. Und so war er nach einer Woche ein Düngerarbeiter fürs Leben – er vermochte wieder zu essen, und wenn auch die Kopfschmerzen nie ganz aufhörten, waren sie nicht mehr so schlimm, daß er nicht hätte arbeiten können.
     
    So verging ein weiterer Sommer. Es war ein Sommer der Hochkonjunktur im ganzen Land, und dessen Bürger verzehrten reichlich Packingtown-Produkte, so daß es – trotz der Anstrengungen der Fabrikanten, einen Überschuß an Arbeitskräften bestehen zu lassen – genügend Arbeit für alle Mitglieder unserer Familie gab. Sie konnten wieder

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