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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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Schläge in seinen Schläfen zählte.
    Sie hatten ihm das Abendbrot gebracht: »Karo einfach mit Döswasser«, das heißt trocken Brot auf einem Blechteller und Kaffee, der deshalb »Döswasser« genannt wurde, weil ihm etwas beigemischt war, um die Arrestanten ruhig zu halten. Jurgis wußte das nicht, sonst hätte er diese Brühe aus Verzweiflung getrunken, denn er zitterte am ganzen Leibe vor Scham und Wut. Gegen Morgen wurde es still im Haus; er stand auf und ging wieder in der Zelle auf und ab. In seiner Seele schickte sich jetzt ein grausamer und blutrünstiger Teufel an, ihm das Herz zu zerreißen.
    Nicht um sich selbst machte sich Jurgis Sorgen – was konnte die Welt jemanden, der in Durhams Düngerbude arbeitete, schon noch antun! Was war die Tyrannei eines Gefängnisses gegen die Tyrannei des Geschehenen, das nicht mehr ungeschehen zu machen war, und der Erinnerung, die sich nie auslöschen lassen würde! Die Wehrlosigkeit dagegen machte ihn wahnsinnig; er hob die Hände zum Himmel empor und flehte um Erlösung. Aber es gab keine – selbst dort droben war keine Macht imstande, die Vergangenheit zu tilgen. Sie war ein Gespenst, das sich nicht austreiben ließ; sie verfolgte ihn, packte ihn und warf ihn zu Boden. Ach, er hätte es ja kommen sehen müssen, wäre er nicht so ein Tor gewesen! Er schlug sich gegen die Stirn und verfluchte sich, daß er Ona dort zu arbeiten erlaubt, daß er sich nicht zwischen sie und ein Schicksal gestellt hatte, das ganz alltäglich war, wie jeder wußte. Er hätte sie von da wegnehmen müssen, selbst auf die Gefahr hin, auf den Straßen von Chicago im Rinnstein den Hungertod zu sterben! Und jetzt – ach, es konnte einfach nicht wahr sein, denn es war zu ungeheuerlich, zu grauenhaft!
    Es war etwas, über das sich nicht hinwegkommen ließ; jedesmal, wenn er nur daran dachte,schauderte ihm von neuem. Nein, diese Last war nicht zu ertragen, unter ihr konnte niemand leben. Auch Ona nicht. Selbst wenn er ihr verzieh, sie auf Knien anflehte, er wußte, sie würde ihm nie wieder in die Augen sehen, ihm nie wieder gehören können. Die Scham würde sie umbringen – eine andere Lösung konnte es nicht geben; das beste war, sie starb.
    Das war einfach und klar. Doch immer wenn er diesen Alp abgeschüttelt hatte, ließ ihn wiederum die Vorstellung, daß Ona verhungern müsse, Qualen leiden und aufschreien. Ihn hatten sie eingekerkert und würden ihn lange dabehalten, vielleicht auf Jahre. Ona aber ging sicher nicht wieder arbeiten, so krank und gebrochen, wie sie war. Und auch Elzbieta und Marija konnten ihre Stellen verlieren; wenn dieser Teufel Connor es darauf anlegte, sie zu ruinieren, würden sie alle rausfliegen. Aber selbst wenn er nicht darauf aus war, könnten sie nicht durchkommen; mochten sie auch die Jungen wieder von der Schule nehmen – ohne ihn und Ona schafften sie es nicht, all den Verpflichtungen nachzukommen. Sie besaßen jetzt bloß noch ein paar Dollar, denn vorige Woche hatten sie gerade erst die schon seit vierzehn Tagen fällig gewesene Miete bezahlt. Also war sie nächste Woche schon wieder fällig! Da könnten sie dann nicht zahlen – sie würden das Haus loswerden, und das nach all ihrem langen, zermürbenden Kampf darum. Dreimal hatte der Mann von der Gesellschaft ihn schon gewarnt, daß er bei nochmaligem Zahlungsverzug mit Konsequenzen rechnen müsse. Vielleicht war es unedel von Jurgis, an das Haus zu denken, da ihn doch eigentlich das andere, das Unsägliche, hätte vollauf beschäftigen müssen. Aber was hatte er, was hatten sie alle für dieses Haus schon ertragen! Das Haus war ihr einziger Lichtblick, ihre einzige Hoffnung für später; sie hatten all ihr Geld hineingesteckt – und sie waren Arbeiter, arme Leute, für die ihr Geld auch ihre Stärke bedeutete, die für Leib und Seele lebensnotwendige Substanz, ohne die sie sterben mußten.
    Und nun würden sie alles verlieren; man würde sie auf die Straße setzen, und dann mußten sie in irgendeiner eiskalten Dachkammer unterkriechen und zusehen, wie sie durchkamen, oder aber verrecken! Jurgis hatte die ganze Nacht – und noch viele weitere Nächte – Zeit zum Grübeln darüber, und er sah das in allen Einzelheiten vor sich, erlebte es, als wäre er dabei. Erst würden sie die Möbel verkaufen und dann bei den Kaufleuten in die Kreide geraten, bis die ihnen nichts mehr anschrieben. Ein bißchen würden ihnen Jokubas und Lucija Szedvilas borgen, obwohl die mit ihrem Feinkostladen stets am Rande der

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