Der Dschungel
begriffen hatte, was los war, führten ihn die Polizisten wieder ab. Sie brachten ihn in einen Raum, wo schon andere Häftlinge warteten, und hier blieb er, bis sich das Gericht vertagte. Dann folgte wieder eine lange und bitterkalte Fahrt in einem Polizeiwagen zum Untersuchungsgefängnis, oben im Norden von Chicago, neun oder zehn Meilen von den Yards entfernt.
Hier wurde Jurgis durchsucht, und man ließ ihm nur sein Geld, ganze fünfzehn Cent. Anschließend ging es in einen Raum, wo man ihm sagte, er solle sich zum Baden ausziehen, und dann mußte er eine lange Galerie entlanggehen, vorbei an den vergitterten Zellentüren der Insassen. Für die war die tägliche Parade der Neuen, alle splitternackt, immer ein Ereignis, und sie hielten nicht mit ergötzlichen Kommentaren zurück. Jurgis wurde befohlen, länger unter der Dusche zu bleiben als die anderen, da man sich der vergeblichen Hoffnung hingab, dadurch etwas von dem eingefressenen Dünger aus ihm herauszukriegen. Es kamen immer zwei Mann in eine Zelle, aber an diesem Tag blieb einer übrig, und das war Jurgis.
Die Zellenfluchten lagen in Etagen übereinander, mit den Türen zu den Galerien. Seine Zelle maß etwa anderthalb mal zwei Meter, hatte einen Steinfußboden und eine fest einzementierte schwere Holzbank. Ein Fenster hatte sie nicht – die einzige Helligkeit kam von dem Lichthof an dem einen Ende der Galerien. Es gab zwei Pritschen übereinander, jede mit einem Strohsack und zwei grauen Decken, die vor Schmutz starrten und auf denen Flöhe, Wanzen und Läuse herumkrochen. Als Jurgis den Strohsack anhob, entdeckte er darunter eine ganze Schicht durcheinanderkrabbelnder Kakerlaken, die beinahe ebenso erschraken wie er.
Auch hier brachte man ihm wieder »Karo einfach mit Döswasser« und dazu noch einen Blechnapf Suppe. Viele Häftlinge ließen sich ihr Esssen aus einem Restaurant herüberschicken, aber Jurgis fehlte dazu das Geld. Manche hatten Bücher zum Lesen, Karten zum Spielen und Kerzen für die Nacht, Jurgis jedoch war ganz allein mit der Dunkelheit und der Stille. Er konnte wieder nicht schlafen; gleich Peitschenhieben auf den nackten Rücken geißelten ihn dieselben wahnsinnig machenden Gedanken wie schon gestern. Als die Nacht hereinbrach, schritt er in seiner Zelle auf und ab wie ein wildes Tier, das sich an den Gitterstäben seines Käfigs die Zähne ausbeißt. Dann und wann warf er sich in ohnmächtiger Wut gegen die Wände und trommelte mit den Fäusten dagegen. Doch holte er sich dabei nur Hautabschürfungen und blaue Flecke – die Mauern waren genauso kalt und erbarmungslos wie ihre Erbauer.
Aus der Ferne war alle Stunde eine Kirchturmuhr zu hören. Als es Mitternacht schlug, lag Jurgis auf dem Fußboden, den Kopf auf die Arme gebettet, und horchte. Anstatt nach dem zwölften Schlag zu verstummen, hub die Glocke ein lauteres Geläut an, in das andere mit einfielen. Jurgis hob den Kopf. Was mochte das bedeuten? Feuer? Mein Gott, wenn hier im Gefängnis ein Brand ausbrach! Aber dann hörte er eine Melodie heraus, erkannte, daß es sich um ein Glockenspiel handelte. Und ringsumher, nah und fern, erklangen nun Glocken wild durcheinander – sie schienen die ganze Stadt aufzuwecken. Eine volle Minute lang lauschte Jurgis in Staunen versunken, bis ihm plötzlich aufging, was das Ganze hieß: Es war Christnacht!
Christnacht – die hatte er völlig vergessen! Schleusentore brachen auf, eine Flut von Erinnerungen und neuem Kummer strömte auf ihn ein. Daheim im fernen Litauen hatten sie Weihnachten immer gefeiert, und er sah es vor sich, als wäre es erst gestern gewesen: er als kleines Kind mit seinem verschollenen Bruder und seinem verstorbenen Vater in dem Häuschen im tiefen dunklen Wald, wo Tag und Nacht Schnee fiel und sie von der Welt abschnitt. Für den Weihnachtsmann war Litauen zu abgelegen gewesen, nicht aber für Frieden und Wohlgefallen unter den Menschen und die wunderträchtige Erscheinung des Christkindes. Selbst in Packingtown hatten sie das nicht vergessen – noch stets war ein Schimmer davon in ihre Dunkelheit gedrungen. Den letzten Heiligen Abend und auch den ganzen Weihnachtstag hatte Jurgis am Schlachtband geschuftet, und Ona mußte Schinken einnähen, und doch hatten sie die Kraft aufgebracht, mit den Kindern einen Bummel durch die Ashland Avenue zu machen und sich die mit Weihnachtsbäumen geschmückten und in elektrischem Licht erstrahlenden Schaufenster anzuschauen. In dem einen konnte man lebende Gänse sehen, in
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