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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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einem anderen wahre Wunderwerke aus Zuckerzeug: Pfefferminzstangen, groß genug für Riesen und Kuchen mit Engeln darauf; in einem dritten lagen reihenweise fette gelbe Truthähne, dekoriert mit Rosetten, und hingen Kaninchen und Erdhörnchen; in einem vierten war ein Märchenland aus Spielzeug aufgebaut: niedliche Puppen in rosa Kleidern, wollige Schäfchen, Trommeln und Soldatenmützen. Und sie selbst brauchten auch nicht leer auszugehen. Letztes Mal hatten sie einen großen Korb bei sich gehabt und all ihre Weihnachtseinkäufe gemacht: einen Schweinebraten, einen Kohlkopf, Schwarzbrot, ein Paar Fausthandschuhe für Ona, eine Gummipuppe, die quietschte, und ein kleines grünes Füllhorn voller Süßigkeiten, das sie dann an das Rohr mit dem Gasstrumpf hängten, wo es von sechs Augenpaaren sehnsüchtig angestarrt wurde.
    Selbst ein halbes Jahr Wurstmaschinen und Düngerfabrik hatten in ihnen nicht den Gedanken an Weihnachten auszulöschen vermocht. Es würgte Jurgis in der Kehle, als er daran dachte, daß am Abend gerade jener Nacht, in der Ona nicht nach Hause gekommen war, Teta Elzbieta ihn beiseite genommen und ihm eine in einem Papiergeschäft für drei Cent erstandene alte Valentinskarte gezeigt hatte – schon etwas angestaubt, aber leuchtend bunt und mit herausklappbaren Engeln und Tauben. Sie hatte alle Flecken abgewischt und wollte die Karte auf den Sims im Wohnzimmer stellen, wo die Kinder sie sehen konnten. Bei dieser Erinnerung schüttelte Jurgis heftiges Schluchzen – sie würden Weihnachten in Elend und Verzweiflung verbringen: er im Gefängnis, Ona krank und ihr Heim trostlos. Ach, es war zu grausam! Warum ließen sie ihn nicht wenigstens in Ruhe? Warum mußten sie, nachdem sie ihn eingesperrt hatten, ihm auch noch Weihnachtslieder vorläuten?
    Aber nein, ihre Glocken erklangen ja gar nicht für ihn – für ihn war ihre Christnacht nicht gedacht, er zählte für sie doch überhaupt nicht, war ohne Wert, und sie hatten ihn auf den Müll geworfen wie Unrat, wie ein krepiertes Tier. Es war furchtbar! Seine Frau konnte sterben, sein Kind verhungern, seine ganze Familie in der Kälte umkommen, und sie läuteten unterdessen ihre Weihnachtsglocken! Und der bittere Hohn dabei war, daß dies hier für ihn eine Strafe sein sollte! Sie steckten ihn in einen Raum, wo der Schneesturm nicht hereinpeitschen, wo sich die Kälte nicht in seine Knochen fressen konnte, und sie brachten ihm Essen und Trinken. Wenn sie ihn schon bestrafen mußten, warum steckten sie um des Himmels willen dann nicht seine Familie ins Gefängnis und ließen ihn draußen? Konnten sie keine bessere Strafe für ihn ersinnen, als drei schwache Frauen und sechs hilflose Kinder hungern und frieren zu lassen?
    So sahen sie aus, ihre Gesetze und ihre Gerechtigkeit! Vor Erregung zitternd, die geballten Fäuste erhoben, stand Jurgis aufrecht da, und seine Seele flammte vor Empörung und Haß. Tausendmal Fluch über sie und ihre Gesetze! Ihre Gerechtigkeit – sie war nichts als Lüge, verruchte und abscheuliche Lüge, so unmenschlich und grausig, daß sie nur in eine Welt der Alpträume paßte. Bloße Vortäuschung war sie, blanker Hohn. Nein, Recht und Gerechtigkeit gab es nirgendwo hier – nur Gewalt, Unterdrückung und Machtstreben, rücksichtslos und ohne jede Hemmung. Ihn hatten sie unter ihrem Absatz zertreten und alle äußere und innere Kraft aus ihm herausgequetscht, seinen alten Vater hatten sie zu Tode gebracht, seine Frau zerbrochen, seine ganze Familie, so unter die Knute genommen, daß sie nur noch am Boden kroch; und jetzt, da sie ihn voll ausgesaugt hatten, konnten sie ihn nicht mehr brauchen – und weil er ihr Treiben gestört hatte, ihnen in den Weg getreten war, taten sie ihm das hier an! Hinter Gitter steckten sie ihn, als wäre er ein wildes Tier, ein Wesen ohne Vernunft, ohne Rechte, ohne Herz und Gefühl. Nein, nicht einmal ein Tier hätten sie so behandelt! Denn welcher Mensch bei Verstand würde ein Tier aus seinem Bau wegfangen und die Jungen als dem Tode preisgegeben zurücklassen?
    Diese mitternächtlichen Stunden waren für Jurgis schicksalhaft, denn in ihnen begannen sein Aufbegehren, sein Verlieren der Gesetzesfürchtigkeit und sein Unglauben. Er war nicht klug genug, daß er das soziale Verbrechen auf seine tiefen Wurzeln hätte zurückführen können – er konnte nicht sagen, daß es das »System« war, was ihn vernichtete, daß es die Fabrikanten waren, seine Herren, die das Recht im Lande gekauft hatten und ihn

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