Der Dschungel
Pleite standen; die Nachbarn würden kommen und ein wenig aushelfen; Jadvyga würde sich ein paar Cents vom Munde absparen, wie sie es immer tat, wenn jemand nichts mehr zu essen hatte, und auch Tamoszius Kuszleika würde ihnen das Geld bringen, das er sich eine ganze Nacht lang mit seiner Geige erspielt hatte. So würden sie sich bis zu seiner Entlassung durchschlagen – aber wußten sie denn überhaupt, wo er war? Würden sie etwas über ihn herausfinden können? Dürften sie ihn besuchen kommen, oder sollte es mit zu seiner Strafe gehören, daß man ihn über ihr Schicksal im ungewissen ließ?
Er malte sich die schlimmsten Möglichkeiten aus. Er sah Ona krank und Qualen leidend, Marija ohne Arbeit, den kleinen Stanislovas wegen des Schnees außerstande, in die Fabrik zu gehen, die ganze Familie auf die Straße gesetzt. O Gott, würde man sie tatsächlich auf der Straße verrecken lassen? Würde es nicht einmal dann Hilfe geben? Mußten sie im Schnee umherirren, bis sie erfroren? Tote auf den Straßen hatte Jurgis noch nicht gesehen, wohl aber erlebt, daß Leute exmittiert worden waren und dann nie wieder gesehen wurden. Es gab zwar ein städtisches Wohlfahrtsamt und im Yard-Viertel auch einen Wohltätigkeitsverein, aber von beiden hatte er nie etwas gehört; sie machten keine Reklame für sich, da sie ohnehin mehr Bitten um Hilfe erhielten, als sie erfüllen konnten.
So quälten ihn seine Gedanken, bis es schließlich Morgen wurde. Dann kam wieder eine Fahrt im Polizeiwagen, zusammen mit dem Trunkenbold, der seine Frau geschlagen hatte, dem Tobsüchtigen, mehreren normalen Säufern und Wirtshausschlägern, einem Einbrecher und zwei Arbeitern, die wegen Diebstahls von Fleisch in ihrer Konservenfabrik festgenommen worden waren. Sie alle wurden dann in einen kahlwandigen Saal getrieben, wo viele Menschen saßen und die Luft schlecht war. Vorn, auf einem erhöhten Podest hinter einer Schranke, thronte ein schwergewichtiger Mann mit rotem Gesicht und glänzender Knollennase.
Unser Freund begriff vage, daß er nun zur richterlichen Vernehmung vorgeführt werden sollte. Er fragte sich, wie die Anklage wohl lauten werde. Wenn sein Opfer inzwischen gestorben war, was machten sie dann mit ihm? Aufhängen vielleicht oder totpeitschen – verwundert hätte ihn nichts, denn er verstand kaum etwas von Gesetzen. Doch hatte er immerhin soviel von dem aufgeschnappt, was erzählt wurde, daß ihm aufging, der Mann da vorn mit der lauten Stimme müsse der berüchtigte Richter Callahan sein, von dem man in Packingtown nur ängstlich tuschelnd sprach.
Patrick Callahan – vor seinem Aufstieg zu Richterwürden als »der Bullenbeißer« bekannt gewesen – hatte seine Laufbahn als Schlächterjunge und stadtbekannter Schläger begonnen; in die Politik war er sozusagen schon gegangen, kaum daß er sprechen gelernt hatte, und noch vor Erreichen des wahlberechtigten Alters hatte er zwei Ämter gleichzeitig innegehabt. War Scully der Daumen, so war Callahan der Zeigefinger der unsichtbaren Hand, mit der die Fabrikanten die Einwohner des Stadtbezirks niederhielten. Keinem Politiker hier vertrauten sie mehr als ihm; er war schon so lange im Geschäft – hatte damals, als ganz Chicago an den Meistbietenden verschachert wurde, im Magistrat die Geschäftsinteressen des alten Durham vertreten. Doch bereits sehr früh in seiner Karriere hatte Callahan aufgehört, sich mit Posten bei der Stadt abzugeben, denn ihm ging es allein um Macht innerhalb der Partei, und ansonsten widmete er sich seinen Spelunken und Bordellen. In den letzten Jahren hatte er jedoch, da seine Kinder heranwuchsen, den Wert der Honorigkeit schätzen gelernt und sich zum Friedensrichter ernennen lassen, wozu er mit seiner erzkonservativen Einstellung und seiner Verachtung für »Ausländer« bestens geeignet war.
An die zwei Stunden saß Jurgis da und blickte im Saal umher. Seine Hoffnung, daß jemand von der Familie kommen werde, wurde enttäuscht. Schließlich führte man ihn nach vorn, und es trat ein Anwalt der Firma gegen ihn auf. Connor befinde sich in ärztlicher Behandlung, erklärte der kurz, und ob Seine Ehren den Delinquenten wohl noch für eine Woche in Gewahrsam lassen könne. »Dreihundert Dollar«, sagte Seine Ehren prompt.
Jurgis blickte verständnislos vom Richter zum Anwalt. »Stellt jemand für Sie Kaution?« fragte Callahan, und ein Amtsgehilfe, der neben Jurgis stand, erklärte ihm, was damit gemeint war. Jurgis schüttelte den Kopf, und noch ehe er
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