Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
Cepheis Sohn, der Zweitgeborene, auf dieser Welt besser bekannt als Hadar, Herr aller Grünbluter und einstmals Stifter der Verblendung. Ich bin schuld an allem. Ich habe das Gleichgewicht zerstört und den Glauben der Völker mit meiner Verblendung gespalten. Mein Blut ist das Gift dieser Welt. Es vergiftete den Blick für das Ganze und lässt aus einem einzelnen Gedanken Fanatismus und Besessenheit erwachsen. Nur die Seele eines Sterblichen, der seinen Segen aus allen Teilen der Macht meiner Familie schöpft, kann geborgen werden. Ohne dass die Seelen derVerstorbenen neu gepflanzt werden, wird niemand Erlösung finden. Ohne die Seelen und den Glauben an die Gottfamilie ist das Band, das Götter und Sterbliche verbindet, durchtrennt. Ich habe meine Strafe erfahren. Ich wurde hier gefangen gesetzt von jemandem, dessen Verblendung ich selbst gesät habe. Gib mir meine Macht zurück, gib mir deinen Segen, und ich werde diese Welt erneut erblühen lassen.«
»Niemals, du widerwärtiger Dämon! Du bist kein Gott. Du versuchst nur, mich mit deinen Worten von Läuterung und Besserung zu blenden!«, schrie Oda. »Mein Herz soll verfaulen, bevor ich einem Wesen wie dir den Segen erteile. Deine Völker haben nichts weiter als Niedertracht auf dieser Welt gesät.«
Die Stimme des Wesens erklang in Odas Kopf, lauter und durchdringender als zuvor.
Gib mir deinen Segen, Oda.
45. DER LEHRENDE
»Wage es ja nicht, Aschgrau«, hörte Milo Rubinias Stimme. »Ich werde dir eigenhändig die Haut abschälen und dich den Grünblutern zum Fraß vorwerfen.«
»Hadars Völker mögen das Fleisch der Tunnelgnome nicht«, antwortete Aschgrau trotzig. »Sie sagen es schmeckt ranzig und ist zäh.«
Milos Schädel dröhnte, und er war noch etwas benommen, doch er erinnerte sich genau daran, wem er das alles zu verdanken hatte.
»Dann werden wir dich vorher ordentlich durchklopfen müssen«, warf Milo ein und öffnete die Augen vorsichtig.
»Cephei sei Dank, es geht dir gut«, rief Rubinia und nahm ihren Neffen in den Arm, wie sie es früher immer getan hatte, als er noch jünger war.
»Nicht so doll, Tantchen«, stöhnte Milo. »Ich fühle mich, als wäre ich in die Seufzerschlucht gestürzt.«
»Und das hast du alles diesem widerlichen kleinen Verräter mit seinen rattenähnlichen Knopfaugen zu verdanken. Jahrelang habe ich ihn verköstigt«, schimpfte Rubinia. »Ich hätte ihm am ersten Tag schon einen Goldregentee verpassen sollen.«
»Ich mag keinen Tee«, zischte Aschgrau, als wenn er die Drohung überhaupt nicht verstanden hätte. »Ich trinke lieber Ziegenmilch.«
Milo löste sich aus der führsorglichen Umarmung seiner Tante und setzte sich aufrecht hin. Sie waren gefangen in einem Käfig – schon wieder. Langsam fühlte sich Milo wie einer dieser kleinen bunten Papageien in ihren Volieren, die sich die Händler in den großen Städten in die Fenster hängten, um so ein wenig extravagant zu wirken. Der Raum, in dem sie gefangen gehalten wurden,war augenscheinlich einer von Meister Othmans Studierzimmern. Überall standen Regale voll mit Büchern, Schriftrollen und losen Papierstapeln. Er erspähte die doppelflügelige Tür an der außen liegenden Wand des Raumes. Er kannte diese Tür. Sie führte hinaus auf einen kleinen Balkon ganz oben am Krähenturm. Milo hatte sich immer gewünscht, einmal dort oben zu stehen und über den Düsterkrallenwald zu schauen. Doch bisher war ihm der Zutritt zu den privaten Räumen des Magiers verwehrt gewesen. Jetzt, wo der Balkon in greifbare Nähe gerückt war, war im plötzlich nicht mehr danach. Das lag vielleicht aber auch an dem Tunnelgnom in seinem schmutzigen Kapuzenumhang, der vor dem Käfig stand und mit einer gespannten Armbrust abwechselnd auf ihn und die beiden anderen, Rubinia und Nelf, zielte.
Seine Tante machte sich daran, noch einmal die Blessuren, die Milo davongetragen hatte, zu untersuchen und entschied, dass er nicht ernsthaft verletzt war. Nelf hatte ein blaues Auge und eine leicht lädierte Nase. Aber ansonsten schien auch er einigermaßen glimpflich davongekommen zu sein.
»Du hättest ruhig noch weiter schlafen können«, sagte er zu Milo. »Deine Träume waren bestimmt angenehmer, als in diese zerknitterte Fratze gucken zu müssen.«
Das Wort »zerknittert« brachte Milo auf eine wichtige Frage: »Was ist mit Meister Othman?«
»Was soll schon mit ihm sein?«, fuhr Rubinia dazwischen. »Wahrscheinlich hat dieses widerliche Geschmeiß ihn genauso überwältigt
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