Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
zwischen den Felsen. Sie verliefen durch das scharfkantige Gestein, verschwanden gelegentlich in der Erde und wuchsen an anderer Stelle wieder daraus hervor. Oda entdeckte ein Dutzend dieser Stränge, und alle führten sie hinauf zwischen die schroffen Felsen. In diesem Teil der Höhle gab es keine magischen Lichter, die alles erhellten. Odas Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit hinter all den leuchtenden Punkten zu gewöhnen. Dann sah sie es: schemenhafte Umrisse einer riesigen Kreatur, die wie gekreuzigt an der Wand hing. Oda wollte schreien, doch aus ihrem Mund kam nur ein leises Flüstern: »Was bist du?«
Ich bin das, wonach du so lange gesucht hast.
Oda versuchte, mehr zu erkennen, auch wenn sie wahnsinnige Angst verspürte, dass ihr nicht gefallen würde, was sie zu sehen bekäme. Und ihre Angst bestätigte sich. Dort, wo die blutroten Stränge zusammenliefen, hatte sich eine unwirklich aussehende Gestalt geformt. Die Stränge wirkten jetzt gar nicht mehr wie Wurzeln, eher wie Nabelschnüre, die zu allen Gliedmaßen reichten. Das Wesen hing in mehr als zehn Fuß Höhe an der Wand. Eswar über zwanzig Fuß groß. Muskeln und Fleisch lagen frei. Eine Hand war vollständig ausgebildet, die andere zu einer grotesken dreifingrigen Klaue verformt. Brust und Bauch schienen wie mit blutigen Lappen umwickelt, der Hals kaum vorhanden. Das Gesicht war eine einzige breiige, blutverschmierte Masse mit einem verzerrten zahnlosen Mund und zwei pechschwarzen Augen, die tief in den Höhlen lagen und Oda anstarrten. Aber am schlimmsten für sie war, dass diese Kreatur immer noch irgendwie menschlich wirkte und unendliche Qualen zu erleiden schien.
Komm ruhig näher und sieh mich genauer an.
Oda klammerte sich mit den Händen an die Lehnen des Stuhls und wandte den Blick ab.
»Ich will nicht mehr von dir sehen, und ich will auch nicht, dass du weiter in meinem Kopf sprichst«, sagte sie so gefasst, wie sie konnte.
Oda hörte, wie das Wesen mit aller Kraft vergeblich versuchte, von der Wand loszukommen.
»Du hast Recht, und ich verstehe dich«, sagte die Gestalt an der Wand mit einer gequält tiefen Stimme, die alles durchdrang, »aber es fällt mir leichter, andere das tun zu lassen, was ich will, wenn ich durch ihre Gedanken spreche. Doch das haben wir wohl jetzt nicht mehr nötig.«
»Ich bin aus freien Stücken hier«, zischte Oda. »Und wenn ich will, kann ich auch wieder gehen, und du kannst mich nicht daran hindern.«
»Natürlich kannst du jederzeit gehen, wenn du willst, aber du wirst es erst wollen, wenn ich es dir erlaube. Ich werde es dir jedoch erst erlauben, wenn du etwas für mich getan hast.«
Oda spürte, dass das Wesen die Wahrheit sprach. Von ihm gingen eine gewaltige Macht und gleichzeitig eine unendliche Hilflosigkeit aus.
»Was bist du, und was willst du von mir?«
Einen Moment herrschte Stille, und Oda befürchtete, jeden Moment wieder die Stimme in ihrem Kopf zu hören. Doch esgeschah nicht, stattdessen sprach die Kreatur auf herkömmliche Weise: »Ich bin der einzige Gott, der für dich existieren wird, wenn du nicht tust, was ich dir sage. Die Mutter wird dann für dich gestorben sein. Doch glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich nicht viel verlange. Es wird für dich ein Leichtes sein, mir meinen Wunsch zu erfüllen und deinen damit wahr werden zu lassen – nämlich die Macht der Mutter zu erfahren. Alles, was du dafür tun musst, ist, mir meine Schuld zu vergeben.«
»Das kann ich nicht, ich bin keine Priesterin«, antwortete Oda. »Mir wurde das Amt von den Ordensbrüdern und Ordensschwestern nicht übertragen. Mein Glaube war nicht stark genug.«
»Du überschätzt die Macht der Priester und unterschätzt den Einfluss der Götter. Die Mutter, die du Cephei nennst, hat dich erwählt, ihre Priesterin zu sein. Was macht es da schon aus, von ein paar Sterblichen nicht den Ornat ihrer Zunft umgelegt bekommen zu haben. Du bist eine Priesterin der Mutter und die einzige Möglichkeit für mich, dieser Knechtschaft hier zu entkommen und meinen Fehler wiedergutzumachen. Nur dein Segen kann meine Fesseln lösen.«
»Cephei ist die Göttin der Halblinge«, sagte Oda. »Nach unserem Glauben existieren die anderen Götter nicht. Sie sind nichts weiter als Götzen, die die anderen Völker anbeten. Du siehst also, in meinem Glauben ist kein Platz für einen selbst ernannten Gott, der glaubt, dass ihn mein Segen freispricht. Du bist nichts weiter als ein Monstrum.«
»Ich bin
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