Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
zurückgelassen, doch wenigstens, so hofften sie, die Personen, die ihnen die Schuld an dem … ja, was überhaupt, dem Unfall, den Verknüpfungen unglücklicher Umstände, dem Missverständnis gaben? Nein, sie würden es anders nennen. Für sie würde es ein Massaker sein, und die beiden einzigen Überlebenden waren zwei Halblinge von zweifelhaftem Ruf.
»Der Regen verwischt unsere Spuren«, erklärte Milo.
Bonne blieb empört stehen. »Du sagst das, als wenn wir zwei gewissenlose Meuchler auf der Flucht vor ihren Häschern wären.«
Milo blieb ebenfalls stehen und drehte sich zu seinem jüngeren Bruder um.
»Das Haus, aus dem wir kommen, liegt voller Leichen. Wir sind weggelaufen, und die anderen werden uns verfolgen. Korrigiere mich, aber bis auf das Wort ›Meuchler‹ stimmt deine Beschreibung genau.«
»Eben nicht! Wir sind nicht gewissenlos. Wir mussten mit ansehen, wie die Ratsmitglieder übereinander hergefallen sind. Wie sie sich gegenseitig umgebracht haben. Wir hatten nur Angst, deshalb sind wie geflüchtet.«
»Sagte er, als die Falltür unter ihm aufging«, fügte Milo ohne viel Frohsinn hinzu. »Sie werden uns irgendwann schnappen und versuchen, uns zur Rede zu stellen. Bei dem, was wir alles auf dem Kerbholz haben, wird uns kaum einer glauben.«
»Warum läufst du dann weg?«, wollte Bonne wissen. »Dann hättest du genauso gut in Eichenblattstadt bleiben können.«
»Ich laufe nicht weg. Meister Gindawell hat mich nach Zargenfels geschickt. Das war sein letzter Wille, und den werde ich respektieren. Und wenn wir Glück haben, finden unsere Nachbarn, Freude und Familie in der Zwischenzeit eine andere Erklärung für das, was passiert ist.«
Bonne ließ den Kopf hängen.
»Dann scheint es so, als wenn ich der Einzige bin, der wegläuft.«
Milo schlurfte zurück zu seinem Bruder und legte ihm den Arm über die Schulter.
»Meister Gindawell hat gesagt, ich soll nach unserer Mutter in Zargenfels suchen. Vielleicht ist sie doch nicht tot. Vielleicht sind wir adoptiert. Was weiß ich denn? Du warst auch dabei und hast es gehört. Genau genommen, hat er uns beide auf diese Reise geschickt. Doch zuerst wollen wir zu Tante Rubinia. Es ist vielleicht nicht verkehrt, einen Verbündeten zu haben. Jemandem, dem wir erzählen können, was wirklich passiert ist.«
Bonne atmete tief durch. »Denkst du, sie wird uns glauben? Sie war bei Mutters Beerdigung. Kann es nicht sein, dass du dich verhört hast oder dass Meister Gindawell etwas anderes gemeint hast. Er lag schließlich im Sterben.«
»Das werden wir schon herausfinden«, sagte Milo mit Überzeugung in der Stimme. »Aber zuerst müssen wir zu Tante Rubinia. Sie war die Einzige, die uns damals geglaubt hat, dass wir die Tempelfenster nicht eingeschmissen haben.«
»Aber das waren wir«, sagte Bonne entsetzt.
»Na gut, das Beispiel war vielleicht schlecht gewählt, dennoch war sie die Einzige, die uns beigestanden hat, und das selbst noch, als sie wusste, dass wir es getan hatten. Dann sollte es ihr dieses Mal einfacher fallen, sich auf unsere Seite zu schlagen.«
Milo gab Bonne einen brüderlichen Klaps auf die Schulter. »Komm schon, es ist nicht mehr weit bis zum Krähenturm, wenn wir weiter so herumtrödeln, werden wir die ersten Halblinge sein, die mitten im Wald ertrinken. Ich glaube, zwischen meinen Zehen bilden sich schon Schwimmhäute.«
Milo versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie nah ihm der Tod der Ratsmitglieder ging. Besonders der von Meister Gindawell. Immerhin waren sie nicht nur der Rat von Eichenblattstadt, sondern auch Freunde, Bekannte, Nachbarn und Vertraute oder eben eine Tuchhändlerin gewesen. Bonne schien es mindestens ebenso zu gehen, doch zusätzlich nagte an ihm noch das Wissen darum, der Kirschkernschütze zu sein, der die ganze Tragödie ausgelöst hatte.
Bonne und Milo kannten den Weg zum Turm des Zauberers genau. Sie waren schon ein Dutzend Mal und öfter dort gewesen, seit ihre Tante die Anstellung beim Zauberer Othman angenommen hatte. Rubinia war so etwas wie der ruhende Pol in der Familie. Nicht nur ein Mal hatte sie es geschafft, ihren Bruder davon zu überzeugen, dass der Unfug, den Bonne und Milo ständig ausfraßen, zum Erwachsenwerden zweier Boggars dazugehörte und ganz normal sei. Ob der Vorfall im Ratssaal von Eichenblattstadt auch darunter fiel, würde sich bald herausstellen.
Milo schätzte, es waren noch gut zwei Meilen zum Krähenturm. Das Heim des Magiers lag zwar nicht auf dem direkten
Weitere Kostenlose Bücher