Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
sprechendenSchafen eingeschüchtert zu sein. Mit einem Satz hechtete er auf die Halblingsfrau zu und verpasste ihr mit der Tatze einen Schlag quer über das Gesicht. Rubinia stürzte hinten über und strampelte in Panik mit den Beinen. Sie spürte die tiefen Schnitte an Stirn und Wange. Im nächsten Moment tropfte ihr Blut ins Auge und färbte die Baumkronen schwarz und den Himmel rot.
Der Reißer war nicht allein. Zwei weitere, etwas jüngere Tiere streiften um ihn herum und schnüffelten interessiert am Boden. Sobald einer versehentlich zwischen seinen Anführer und dessen Beute kam, schnappten die Kiefer des großen Tieres in Richtung des Störenfrieds zu und vertrieben ihn. Mit eingeklemmtem Schwanz reihte er sich wieder hinter ihm ein. Nachdem die Fressreihenfolge geklärt war, fixierte der Reißer eines von Rubinias Beinen. Zum Sprung bereit, kauerte er vor ihr und wartet auf den passenden Moment.
»Verschwinde!«, kreischte Rubinia, was ihren Angreifer aber weder vertrieb noch erschreckte.
Gerade wollte er zum Sprung ansetzen, da trat hinter dem dicken Eichenstamm eine kleine gelangweilt aussehende Gestalt hervor, bewaffnet mit einem kurzen Weidenstock.
»Weg da!«, nörgelte sie und hieb wenig temperamentvoll auf eines der Jungtiere ein, die sofort Reißaus nahmen.
Rubinia konnte kaum noch etwas sehen, doch Größe und Stimme der Gestalt ließen keinen anderen Schluss zu, als dass es sich um Tannengrün handelte.
Mittlerweile hatte auch der Reißer bemerkt, dass das Schaf einen Mitstreiter bekommen hatte. Zähnefletschend wandte er den Kopf und knurrte den Tunnelgnom an.
»Hau ab«, knurrte dieser zurück und verpasste dem Tier einen Schlag mit dem Weidenstock auf das Hinterteil.
Der Reißer fuhr herum und schnappte nach der Rute, verfehlte sie aber um Haaresbreite. Durch den Misserfolg noch aggressiver geworden, entschied er sich, dass Gnomenfleisch ebenso gut war wie Schaf. Tief geduckt, schlich er auf seine neue Beute zu.
Das Volk der Tunnelgnome war nicht gerade bekannt für ihren großen Mut. Genau genommen standen sie diesbezüglich tatsächlich auf einer Stufe mit Schafen. Was sie jedoch ab und an über ihren eigenen Schatten springen ließ, war ihre Unwissenheit. Tunnelgnome kamen zur Welt und lernten nur das, was ihre Umgebung freiwillig preisgab. Was nicht allzu viel war, wenn man sein Leben lang in einem Kohlenkeller, einer Speisekammer oder einer Küche hauste. Dadurch kannten sie viele Gefahren der Welt außerhalb ihres Heimes nicht und gingen somit recht unbedacht mit ihnen um.
Der Tunnelgnom tat das, was man mit einer streitlustigen Katze tat, wenn sie ihre drolligen fünf Minuten hatte. Er schritt unbeeindruckt auf sie zu, hörte sich geduldig das Fauchen an und zog ihr dann etwas mit der Weidenrute über.
Da der Reißer etwa dreimal so groß wie eine Katze war, schien der Gnom sich entschieden zu haben, auch etwas mehr Wucht in seinen Schlag zu legen. Mit aller Kraft zog er dem Tier den Weidenstock über die Schnauze. Quiekend vor Schmerz und geschockt von so viel Dreistigkeit, sprang der Reißer ins Unterholz und verschwand.
Rubinia hatte sich gerade wieder aufgerappelt und wischte sich das Blut aus den Augen. Verwundert starrte sie auf den Tunnelgnom vor sich.
»Du bist nicht Tannengrün«, stellte sie verwundert fest.
Der Gnom betrachtete seine Hände, wobei er sie mehrfach hin- und herdrehte, und riskierte dann einen letzten Blick auf seine Füße.
»Nein, ich bin nicht tannengrün«, erwiderte er. »Ich bin schmutzig braun.«
»Das stimmt«, lachte Rubinia weniger belustigt, als erleichtert.
7. MILO
Es regnete bereits seit den frühen Morgenstunden. Milo und Bonne hatten es irgendwann aufgegeben, zu versuchen, sich möglichst trocken zu halten. Mittlerweile waren sie bis auf die Unterwäsche nass, und das sonst schulterlange lockige Haar hing in dicken Strähnen glatt herunter oder klebte quer über ihre Gesichter. Ihre Kleidung und die spärlich gepackten Rucksäcke hatten sich wie Schwämme vollgesogen und ließen jede Bewegung zu einer Qual werden.
»Ob es noch mal aufhört zu regnen?«, quengelte Bonne.
Dies war seit Stunden das Erste, was er von sich gab. Die halbe Nacht waren sie gelaufen und hatten darüber spekuliert, was in Eichenblattstadt wirklich vorgefallen war, und vor allen Dingen, warum. Mit dem Sonnenaufgang war ihnen einiges klargeworden, nämlich dass sie das Laufen weiter gebrachte hatte als das Reden. Sie hatten zwar ihre Probleme nicht
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