Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
er sich zu ihm.
»Was für eine Wahrheit sucht Ihr?«, fragte Milo mit vollem Mund, während er gierig die Suppe verschlang.
»Nach jeglicher Wahrheit, die uns weiterbringt. Ob es nun eine Glaubensangelegenheit oder irgendetwas anderes ist, spielt keine Rolle. Jede Art von Wahrheit ist ein kleiner Puzzlestein in der Erkenntnis um das Leben. Aber was rede ich die ganze Zeit, erzähl mir doch ein wenig von dir. Was hat dich hierher verschlagen, und wohin willst du?«
Milo wusste nicht genau, was er dem Alten erzählen sollte, deswegen schaufelte er sich schnell einen weiteren Löffel der Suppe in den Mund, um etwas Bedenkzeit zu schinden. Ningoth schien ihn nicht drängen zu wollen, doch seine Augen ruhten weiterhin auf dem Halbling, und Milo spürte, dass sie das tun würden, bis er ihm eine Antwort gab.
»Ich komme, wie schon gesagt, aus Eichenblattstadt«, begann er. »Mein Meister Gindawell hat mich auf die Reise nach Zargenfels geschickt, weil ich jemanden für ihn finden soll. Auf dem Weg dorthin habe ich noch bei meiner Tante Rubinia vorbeigeschaut, die als Haushälterin im Krähenturm für Meister Othman arbeitet.«
»Soso, bei der alten Krähe warst du«, sagte Ningoth. »Ein ziemlich eigenbrötlerischer Mann. Ich war vor Jahren bei ihm, um ihm etwas von unserer Ernte anzubieten. Er hat mich einfach fortgeschickt und erklärt, dass er seine Vorräte aus Zargenfels bezieht. Kein Wort des Dankes und kein ›Auf Wiedersehen‹. Er schlug mir einfach die Tür vor der Nase zu.«
Milo kannte den Magier nur als netten, freundlichen, aber etwas kauzigen Mann. Tante Rubinia hatte ihm erklärt, dass Magier immer etwas weltfremd waren, und dass sie mit den Eigentümlichkeiten von Meister Othman gut zurechtkam. Trotzdem entschloss sich Milo, Ningoth lieber nach dem Mund zu reden.
»Er ist eben ein alter Magier. Manieren hat man ihm vielleicht nie beigebracht, und so ein Leben allein macht die meisten irgendwie wunderlich, glaube ich.« In diesem Moment fiel ihm auf, dass seine Theorie auch falsch aufgefasst werden konnte. Doch bevor er etwas zur Entkräftung sagen konnte, ergriff Ningoth bereits wieder das Wort.
»Wenn du vom Krähenturm kommst und nach Zargenfels willst, bist du zu weit südlich. Die Straße, die du suchst, ist fünf Meilen nördlich von hier.«
»Ich habe es gewusst«, stöhnte Milo mit halb vollem Mund, »Ich hätte die andere Abzweigung nehmen sollen.«
»Das hättest du«, bestätigte Ningoth. »Doch ich kann dir ein Angebot machen. Meine Freunde müssten übermorgen wieder hier sein. Sie verkaufen Rüben und Kartoffeln in Zargenfels und bringen Fleisch und allerhand andere Sachen vom Markt dafür mit. Wenn sie hier sind, beladen sie den Wagen neu und fahren abermals in die Stadt. Wenn du willst, kannst du mit ihnen reisen.«
Na, wenn das kein Zufall ist , stöhnte Milo in Gedanken. Wie oft hatte sein Vater ihm und seinem Bruder versucht einzubläuen, dass sich Lügen auf lange Sicht nicht auszahlten. Im Haus der Wahrheiten schien diese ›lange Sicht‹ der Zweitraum von einem Herzschlag zum nächsten zu sein. Er konnte das Angebot unmöglich ablehnen, dazu war es zu schön, um wahr zu sein. Er konnte sich unmöglich von diesem Ningoth schon nach wenigen Minuten bei einer Lüge ertappen lassen. Mit etwas Glück verspäteten sich seine Freunde oder hatten doch noch etwas anderes zu tun.
»Oh, das wäre wunderbar. Ich habe auch langsam die Lust verloren, zu Fuß zu reisen. Außerdem könnte ich mich dann noch einen Tag ausruhen und würde trotzdem die verlorene Zeit wieder aufholen, wenn wir mit Pferd und Wagen reisen. Das ist famos. Ich danke Euch sehr.«
»Ich danke dir sehr«, verbesserte ihn Ningoth. »Ein freies Zimmer findest du oben.«
15. DER REISENDE
Er stand auf dem frisch gepflügten Kartoffelacker. Es war Nacht, und die Sterne verbargen sich hinter dichten Wolken. Seine Schuhe drückten sich tief in die lockere Erde. Unweit von ihm verlief ein schmaler Feldweg, der hinüber zu einem Haus führte. Hinter zwei Fenstern brannte Licht.
»Gutmütigkeit ist nichts anderes als Schwäche«, raunte er. »Lässt du Kinder in der Scheune spielen, wird sie irgendwann abbrennen. Du kannst nicht ständig auf sie aufpassen. Aber du kannst ihnen auch nicht alles verbieten.«
Der Reisende ärgerte sich über sich selbst. Er hatte gedacht, diesen Teil seiner Persönlichkeit schon hinter sich gelassen zu haben und nur noch der Wissende zu sein. Er hatte sich geirrt. Seine Schwäche wurde ihm
Weitere Kostenlose Bücher