Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
sofort wieder aus den Augen zu verlieren. Doch Milo spürte, dass Nizzak genau wusste, was der Halbling hinter ihm so machte.
Milos Kräfte schwanden langsam. Seine Füße waren schon ganz taub von der kalten Nässe, dennoch setzte er ein weiteres Mal zum Spurt an, um den Goblin wieder einzuholen. Er rannte geradewegs über die Böschung hinweg und stieß beinahe mit Nizzak zusammen. Der Goblin stand wie angewurzelt da und spähte zwischen den Blättern eines Trommelbeerbaumes hindurch.
»Na endlich«, keuchte Milo. »Ich hatte schon befürchtet, ich muss bis Zargenfels rennen, um dich einzuholen.«
Nizzak erwiderte nichts, stattdessen drückte er einen Zweig beiseite und deutete auf die freie Graslandschaft, die sich vor ihnen auftat.
Milo nahm es zuerst wahr, so glaubte er jedenfalls. Es sah aus wie zwei Sterne, die sich vom Firmament gelöst hatten und zu Boden gestürzt waren. Zwei kleine leuchtende Flecken, die ein warmes gelbes Licht in einem grünenschwarzen Meer aus Gras verströmten.
»Ein Gasthaus«, quiekte Milo vergnügt und deutet mit dem Finger auf die leuchtenden Punkte. »Warmes Essen, kaltes Bier und ein gemütliches weiches Bett am Kamin«, entfuhr es ihm mit verklärtem Blick.
»Dann endet hier unser gemeinsamer Weg«, sagte Nizzak. Er holte ein Horn hervor und setzte es an die grünschwarzen Lippen.
»Was hast du vor?«, fragte Milo verwirrt.
»Ich gebe das Zeichen, dass wir den Waldrand erreicht haben.
»Die Trollhöhle ist meilenweit entfernt. Xumita Latorinsis wird es nicht hören können.«
Nizzak blies in das gewundene Instrument, das aussah wie ein Widderhorn.
»Warte noch kurz, bevor du gehst«, sagte er, als er es abgesetzt hatte.
Milo tat ihm den Gefallen. Auf ein paar Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an. Plötzlich durchfuhr ihn ein stechender Schmerz, der von der Innenfläche seiner linken Hand ausging. Erschrocken hielt Milo sie hoch und sah den langen Schnitt vom kleinen Finger zum Daumen.
»Er hat uns gehört«, sagte Nizzak. »Dies Andenken soll dich an den Fluch und dein Versprechen erinnern. Du kannst nicht davonlaufen.«
Milo starrte mit schmerzverzerrter Miene in seine Hand. »Wie ist das möglich?«, stammelte er, aber er bekam keine Antwort. Nizzak war bereits verschwunden.
»Ein einfaches auf Wiedersehen hätte gereicht!«, rief Milo ins Dickicht des Waldes, hoffte aber darauf, dass es nicht zu einem solchen kommen würde.
Er riss ein Stück aus der alten Decke heraus, die er mitgenommen hatte, und wickelte es um seine Hand, dann trat er aus den Büschen und machte sich auf den Weg zu dem Haus in der Ferne.
Er überquerte drei brachliegende Felder, bis er sein Ziel erreichte.
»Das ist aber eine seltsame Herberge«, röchelte er. »Hier ist gar keine Straße.«
Dann fiel ihm auf, dass er mit sich selbst sprach. Er war es gewohnt, dass immer jemand in seiner Nähe war, den er ansprechen konnte. Es war das erste Mal, dass er wirklich allein war. Verbittert sah er auf das Stück Stoff um seine Hand, dass sich mittlerweile mit Blut vollgesogen hatte.
Dann wandte er sich wieder dem fremden Haus zu. Die untere Etage war hell erleuchtet, und bei zwei Fenstern standen die Läden noch offen. Milo erhaschte einen Blick ins Innere, konntesich aber immer noch keinen Reim darauf machen, für was dieses Gebäude genutzt wurde.
Das Haupthaus stand auf einem Steinkranz aus grob behauenen Felsblöcken. Zwei schwere Eichenbohlen, ebenfalls gelagert auf Felssteinen, dienten als kurze Stiege zum Eingang. Zwei Laternen beleuchteten den Bereich, und über der Tür hing ein Holzschild von einer geschmiedeten Wandhalterung. Milo blieb zweifelnd vor dem Schild stehen.
»Was soll das denn sein?«, flüsterte er zu sich. »Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die behaupten, sie gefunden zu haben«, las er vor.
Milo hatte damit gerechnet, so etwas wie »Springender Hirsch«, »Zum Keiler« oder »Zur drallen Schankmaid« auf dem Schild zu lesen. »Kohlsuppe satt – zwei Silberlinge« hätte ihm noch besser gefallen. Aber das hier, was sollte das sein, so etwas wie eine Lebensweisheit?
Er nahm sich ein Herz, stieg die zwei Stufen hinauf und klopfte mehrmals gegen die Tür.
Nichts passierte.
Erneut versuchte er es. Diesmal etwas energischer.
»Ja doch«, erscholl eine kräftige Männerstimme von innen, und schlurfende Schritte auf Dielenboden waren zu hören.
Milo trat wieder einen Schritt zurück, um nicht gleich sprichwörtlich mit der Tür ins
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