Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
ein Galgen, der knarrend seine Last unter sich im Wind baumeln ließ.
»Sieh mal an, das geballte Wissen eines alten Halblingklerikers«, schnaubte der Fremde, nachdem er den Raum betreten hatte.
Milo hörte, wie er die Seiten in Meister Gindawells Buch umblätterte.
Die Unterlagen! Verdammt, ich habe sie auf dem Tisch liegen lassen , schalt sich Milo.
»Armselig und unreif«, kommentierte der Besucher, nachdem er das Buch zugeschlagen hatte.
Dann bewegte er sich zum Fenster. Glas knirschte unter den Sohlen seiner Schuhe.
»Was meinst du, Gratz? Wenn du nur halb so groß wärest wie alle anderen und deine kurzen Beine dich nur halb so schnell forttrügen wie deine Verfolger, würdest du einen Sprung aus diesem Fenster wagen und versuchen, wegzulaufen?«
Die Bestie knurrte bösartig.
»Oder würdest du es nur so aussehen lassen und dich verstecken? Vielleicht in einer alten Wäschetruhe?«
Milo hatte sich in seiner Panik vollkommen versteift. Er hörte, wie fremde Fingerknöchel einen Trommelwirbel gegen die Truhenwand hämmerten. Milos Finger tasteten an der Deckelinnenseite. Er bekam einen brüchigen Lederriemen zu fassen, der dazu diente, den Deckel wieder zuzuziehen oder ihn langsam nach hinten abzuklappen. Seine Finger verkrallten sich in die Schlaufe. Er hing förmlich an ihr, in der Hoffnung, dass sie nicht riss.
Milo hörte das Schnauben der Bestie keine Handbreit vor sich.Er war verloren. Seine Finger klammerten sich so stark an den Lederriemen, dass er spürte, wie seine Fingerkuppen zu kribbeln begannen, weil er das Blut aus ihnen presste.
Das Ungetüm drückte die Schnauze gegen den schmalen Spalt zwischen Deckel und Truhe. Zuerst schnüffelte es nur wie ein Hund, der sein Fressen durch die Türschwelle hindurch witterte. Dann setzten scharfe Zähne an und versuchten, den Spalt aufzuhebeln. Der Deckel hob sich einen halben Finger breit, und fauliger Gestank strömte ins Truheninnere. Milo hielt mit aller Kraft dagegen und schaffte es, den Deckel wieder zuzuziehen.
»Nein, Ningoth! Nein!«
Die Schreie kamen eindeutig von unten. Es war eine junge Männerstimme, und sie klang mehr als nur entsetzt.
Dann fegte plötzlich ein Windstoß durch den Raum, der selbst noch im Inneren der Truhe zu spüren war. Ein Geräusch wie von Blättern, die durch die Luft geweht wurden, erfüllte das Zimmer, und es roch bitter und metallisch.
Im Erdgeschoss wurden weitere Stimmen laut. Viele Männer sprachen hektisch und aufgeregt durcheinander.
Milo hielt immer noch den Deckel der Kiste zu, in der er saß.
Mehrere Personen rannten die Treppe hinauf. Jemand betrat das Zimmer, lief zum Fenster und rannte wieder hinaus auf den Flur.
Milo lupfte den Truhendeckel ein Stück an, um einen Blick auf die Neuankömmlinge zu erhaschen. Einer von ihnen stand in der Tür. Erschrocken ließ er den Truhendeckel wieder zufallen.
Nicht, sie werden mich sonst finden , sagte er zu sich selbst. Wie viele freundliche Begegnungen hatten wir denn, seit wir Eichenblattstadt verlassen haben? Mir reicht es langsam. Ich bleibe hier hocken, bis sie wieder abziehen.
Milo war fest entschlossen, wenn nötig tagelang in der Truhe zu hocken. Schließlich lag unten ein toter Mann, und falls die Bestie und sein Herrchen das Weite gesucht hatten, blieben nicht viele Verdächtige über, denen man an den Kragen gehen konnte. Doch die Entscheidung wurde Milo abgenommen. Der Truhendeckelflog nach oben, und Milo sah sich einem jungen Kerl mit langen blonden Haaren gegenüber. Die Spitze eines Breitschwertes zeigte direkt auf Milos Nase.
»Komm raus da«, knurrte er.
»Ich komme ja schon«, erklärte Milo, als er herausstieg. »Ich bin nur ein Halbling auf der Durchreise. Ich bin unbewaffnet. Meister Ningoth bot mir freundlicherweise für die Nacht ein Bett an.«
»Dann hättest du es auch besser benutzen sollen. Ab mit dir nach unten, ich glaube, du solltest uns etwas erklären, bevor wir dich hinter dem Haus an einem der Apfelbäume aufknüpfen«, sagte der Mann.
»Es ist nicht so, wie es aussieht«, versuchte Milo, sich zu verteidigen.
»Spar dir deine Lügen, Halbling«, fauchte ihn sein Gegenüber an. »Ningoth ist tot, und ich finde dich versteckt wie einen Meuchler in einer Truhe im Haus. Für mich ist die Sache eindeutig. Komm, beweg dich.«
Milo wurde nach unten getrieben wie ein Stück Vieh, das man zum Schlachten in den Innenhof brachte. Die Spitze des Schwertes in seinem Rücken bewahrte ihn davor, aus Versehen stehen zu bleiben
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