Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
und begaben sich im Tempel in Sicherheit. Keine hundert Schritt trennten Rubinia mehr von dem kreisrunden Portal des Cepheitempels. Ihre Wunde am Oberschenkel hatte wieder begonnen, stark zu bluten, und ihr wurde schwindelig. Ein junger Halbling kreuzte ihren Weg und rempelte sie an. Rubinia kam ins Stolpern und stürzte. Der Halbling rannte einfach weiter, ohne ihr aufzuhelfen oder sich wenigstens umzudrehen. Rubinia glaubte sich zu erinnern, dass es einer der Furtfußsprößlinge war. Das lockige blonde Haar und sein Übergewicht passten dazu. Rubinia sah ihm verärgert hinterher, und in diesem Moment traf den jungen Halbling ein Bolzen in den Rücken. Er taumelte noch einige Schritte vorwärts und brach dann zusammen. Zwei zierliche Mädchen sprangen über ihn hinweg, als sei der sterbende Körper eines Nachbarn nicht mehr als ein zusammengeharkter Laubhaufen.
»Komm hoch, wir haben keine Zeit, auszuruhen«, sagte jemand zu Rubinia und zog sie am Arm hoch.
»Gunder, was ist hier nur los?«, fragte sie, obwohl sie wusste, dass sie keine Antwort bekommen würde.
Die panischen Schreie mehrerer Frauen ließen Rubinia herumfahren. Der Marktplatz war zu einem Schlachtfeld geworden. Wenigstens ein Dutzend Männer und Frauen lagen regungslos auf dem gepflasterten Platz. Einigen von ihnen ragten Bolzenschäfte aus dem Körper, andere waren vielleicht nur gefallen und hofften, unbemerkt zu bleiben.
Die Zwerge hatten sich von dem Überraschungsmanöver erholt. Der eine schwang seinen Hammer unnachgiebig gegen jeden, der ihm in die Quere kam. Der andere, dessen halbes Gesicht und Haar verbrannt waren, schlug mit einem langen Holz, das anscheinend zur Tränke gehörte, auf die flüchtenden Halblinge ein. Er brachte eine ältere Frau zu Fall, die Rubinia nur vom Sehen her kannte, und stürzte sich auf sie, um ihr mit einem Ruck das Genick zu brechen.
Die Bürger Eichenblattstadts rannten in Panik umher. Vielesuchten Schutz in Ställen oder in irgendwelchen Vorgärten. Immer wieder stürzten Männer und Frauen anscheinend grundlos, bis man die hölzernen Schäfte in ihren Leibern erkannte.
Rubinia konnte den Armbrustschützen auch weiterhin nicht ausmachen. So viele verloren ihr Leben für einen Schutz, der vielleicht keiner war. Was sollte die Zwerge davon abhalten, sie zu töten, auch wenn sie im Tempel waren?
Rubinia wurde von Gunder mitgezogen. Als sie die fächerartige Treppe zum Tempel erreichten, waren nur noch ein paar Nachzügler hinter ihnen. Die anderen waren umgebracht worden, hatten woanders Schutz gesucht oder befanden sich bereits bei Oda im Tempel.
Oda stand an der Schwelle des Gotteshauses und gab ihnen Zeichen, sich zu beeilen. Eine Hälfte des Doppelportals hatte sie schon geschlossen. Zwei Bolzen stecken auf Brusthöhe neben ihr im Holz.
»Beeilt euch, ihr seid die Letzten«, rief Oda ihnen zu. »Wir müssen das Tor schließen.«
Als Rubinia sich einen Moment zuvor umgedreht hatte, waren noch zwei Männer und eine Frau hinter ihnen gewesen. Sie beschloss, sich nicht noch einmal umzudrehen, um nach den dreien zu sehen.
Sobald sie drinnen waren, stemmte Oda sich gegen die Tür. Das Portal dröhnte wie ein Donnerschlag, als es sich hinter ihnen schloss. Zwei kräftige Burschen halfen, den Türbalken von Innen in die Auflage zu schieben.
Gunder führte Rubinia zu einer der hölzernen Bankreihen, damit sie sich einen Moment ausruhen und er sich ihre Wunde am Bein ansehen konnte. Der Verband hatte sich mit Blut vollgesogen, und es sah nicht so aus, als wenn sich die Wunde von allein wieder schließen würde.
»Du bist schon zu schwach«, sagte Gunder. »Wir müssen die Blutung irgendwie stoppen, sonst wirst du bald das Bewusstseinverlieren. Ich weiß nicht, was ich machen soll, Gindawell ist tot, und einen anderen Heiler hat das Dorf nicht.«
»Du kannst die Wunde ausbrennen«, erwiderte Rubinia. »Wir brauchen nur ein Feuer und ein Stück Metall, am besten ein Messer.«
Rubinia sah sich im Tempel um. Die Bankreihen bis hin zum Altar waren gefüllt mit Halblingen wie an einem Sonntagmorgen zur Messe. Viele hatten es geschafft, unversehrt an den Zwergen vorbeizukommen. Einige hatten leichte Blessuren, andere Schürfwunden, weil sie gestürzt waren. Verängstigte Blicke, erschöpfte Gesichter und Ratlosigkeit waren bei den meisten zu finden. Rubinia schätzte, dass es um die achtzig Halblinge waren, die sich hierher hatten flüchten können. Was sollte aus den anderen werden, die noch dort draußen
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