Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Duft der grünen Papaya

Der Duft der grünen Papaya

Titel: Der Duft der grünen Papaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Benedict
Vom Netzwerk:
sie und starrten Löcher in den Fußboden. Gelegentlich seufzten sie, tätschelten ihre Hand und sagten etwas wie: »Das arme Kind« oder »Mein armes Kind« oder »Wird schon wieder«. Nach einer Weile schien ihr Vater sich mehr für die Krähen im Krankenhausgarten zu interessieren, die um die kahlen Bäume kreisten, und ihre Mutter prüfte die Hautverträglichkeit der Krankenhausseife.
    Sie gingen, andere kamen. Freundinnen, die Evelyn sagten, sie wüssten, wie sie sich fühle, und wenn sie reden möchte, dürfte sie jederzeit anrufen. Dann Verwandte, Kollegen, ein Psychiater vom Krankenhaus. Wer nicht kam, waren ihre Schwiegereltern.
    Der Einzige, der ihr wirklich half, war Carsten. Nicht durch seine Anwesenheit, seine Tränen, seinen Trost, wie er glaubte, sondern durch einen Streit, den letzten Streit zwischen ihnen überhaupt.
    »Ich möchte sie Julia nennen«, sagte sie am Tag nach dem Tod der Kleinen. »Der Name hat mir immer gefallen.«
    Er zuckte mit den Schultern, schwieg.
    »Hast du nichts dazu zu sagen?«
    »Ich finde es nicht wichtig, wie sie heißt, jetzt wo …« Er zuckte ein weiteres Mal mit den Schultern. Er meinte es nicht so, wie es aussah, er war nur hilflos, doch gerade diese unbeholfene Geste machte Evelyn wütend.
    Sie richtete sich in dem Krankenbett auf. »Nicht wichtig? Nicht wichtig, was für immer auf dem Grabstein deiner Tochter stehen wird? Was wäre dir denn lieber? Soll dort einfach ›Tochter‹ stehen? Tochter Braams? Oder Tochter von Evelyn und Carsten?«

    »Kein Grund zur Aufregung. Bitte, dann nennen wir sie Julia.«
    Sie fand die nachlässige Art, wie er über eine so wichtige Frage sprach, ungeheuerlich. »Wir geben hier nicht einer Katze einen Namen, sondern …«
    »Ich weiß«, sagte er mit zitternden Lippen. »Du brauchst mir nicht zu sagen, über wen wir reden. Ich habe sie auf dem Arm gehalten, so wie du. Ich habe ihren Atem gespürt, genau hier.« Er deutete auf sein unrasiertes Kinn. »Also hör auf, mich zu behandeln, als sei mir ihr Tod gleichgültig. Im Moment habe ich eher das Gefühl, dass du es bist, die …« Er schluckte, lief aus dem Zimmer.
    Zu früh. So seltsam es klang, unbewusst war sie Carsten sogar dankbar für seine ungeschickte Art gewesen. Sicher, sie regte sich furchtbar über ihn auf, aber genau das, dieser Streit, war das einzige Ventil, durch das sie einen Teil der Verzweiflung ablassen konnte, die sich in ihr staute. Viel zu wenig. Nachdem er gegangen war, setzten sich die aufgewühlten Gefühle wieder ab wie Asche, die alles bedeckte.
    In der Leichenhalle des Krankenhauses besuchte sie den geliebten Körper. Leblos blau lag Julia vor ihr. Kein Mensch und kein Gott konnte sie wieder wecken. Evelyn konnte es nicht begreifen, zu unheimlich, zu unergründlich war das, was geschehen war. Ihre Gedanken standen still, während sie bei dem kleinen, kalten Körper saß und ihn berührte, streichelte.
    Erst als am nächsten Tag der winzige Sarg in die Erde gelassen wurde, tat sich in Sekundenschnelle der Abgrund vor Evelyn auf. Ein gewaltiger, verzerrter, stummer Schrei stieg in ihr hoch. Sie fand sich in einer grauenhaften Wirklichkeit wieder und begriff, dass es anders als bei einem Albtraum niemals ein erlösendes Erwachen für sie geben würde, dass sie nicht entfliehen, nicht entkommen konnte. Ihr Leben war zertrümmert, und inmitten der Zertrümmerung
gab es nur Sinnlosigkeit. Sie weinte. Sie weinte um Julia, die so vieles gern getan hätte, die die Sehnsucht nach der Fülle des Lebens in sich getragen hatte, Sehnsucht nach Farben und Freude und Geheimnissen. Sie weinte um das hoffnungsvolle Leben, das vor ihren Augen zugeschüttet wurde.
    Und sie weinte um sich.
    Carsten ließ es nie wieder zu einer Auseinandersetzung kommen, es war beinahe so, als rieche er mögliche Streitpunkte und schaffe sie von vorneherein aus dem Weg. Er erledigte die Kondolenzanrufe und beantragte den restlichen Jahresurlaub, um bei ihr zu sein. Nach seinem Fehlverhalten bei der Namensgebung verhielt er sich wie ein liebender, besorgter Ehemann.
    An manchen Tagen fühlte sie sich schwach und zerbrechlich wie ein verletzter Vogel, an anderen wallte für Sekunden Wut in ihr hoch und brachte Kampfgeist mit. Dann provozierte sie Carsten, indem sie sagte: »Deine Eltern haben mich noch nicht ein einziges Mal besucht. Ich sage dir, sie geben mir die Schuld, deswegen meiden sie mich. Diese Idioten!«
    Und er antwortete: »Sie benehmen sich wirklich unmöglich, das habe ich

Weitere Kostenlose Bücher