Der Duft der grünen Papaya
ihnen auch schon gesagt.«
Peng! Carsten schoss jede Provokation ab, bevor sie Luft gewinnen konnte. Nicht nur, dass er Evelyn zustimmte, dass seine Eltern Idioten waren, er sagte es ihnen auch noch. Wie hätte sie ihm da Vorwürfe machen können! Trotzdem drängte es sie ab und zu, einen Streit mit ihm vom Zaun zu brechen, doch jedesmal nahm er ihr – bewusst oder unbewusst – den Wind aus den Segeln, indem er in allem nachgab.
Schon bald schlossen sich Carstens Wunden, Evelyns dagegen brachen immer wieder auf. Daher wandte sie sich an ihre Freundinnen, die gelobt hatten, immer für sie da zu
sein. Sie wollte über Julia sprechen, über die wenigen Augenblicke, die ihr mit dem kleinen Wesen vergönnt gewesen waren, über die Schwangerschaft und die Eindrücke, die sie davon behalten hatte. Und über das, was sie jetzt fühlte – und die Angst, eines Tages nichts mehr zu fühlen. Doch sie erlebte eine Enttäuschung nach der anderen. Die meisten Freundinnen konnten mit Evelyns Wunsch, über Julia zu sprechen, nicht umgehen. Sie wollten Evelyn ins Kino einladen, einen Urlaub mit ihr verbringen und solche Dinge. Vor einem toten Kind hatten sie regelrecht Angst, ganz so, als sei das etwas Ansteckendes und wäre ein böses Omen für ihren eigenen Kinderwunsch oder die jungen Söhne und Töchter zu Hause. Andere wiederum behandelten Evelyn wie einen Pflegefall, erteilten unentwegt Ratschläge und waren eingeschnappt, wenn Evelyn diese nicht beherzigte. Da manchmal schon ein kleiner Auslöser genügte, um Evelyns Schmerz zum Ausbruch zu bringen, überlegten die Freundinnen sehr genau, was sie sagen und wie sie sich verhalten sollten. Sie mieden immer mehr Themen, nicht nur einfach das Thema Julia, sondern generell das Thema Kind und alles, was damit zusammenhing oder zusammenhängen könnte, also auch Schule, Schulnoten, Kindergelderhöhung, Kinderstreiche, ja sogar Verhütung und Sex. Sie vermieden es, bestimmte Dinge aus ihrem Leben zu erzählen, um Evelyn nicht wehzutun, bis sie irgendwann beinahe nichts mehr zu erzählen hatten. So wurde Evelyn für sie zu einem komplizierten, ermüdenden Menschen, und wer hat schon gerne ermüdende Menschen um sich? Die Gespräche wurden gezwungener, die Einladungen seltener, bis sie schließlich vollständig ausblieben.
Allein mit sich selbst, stellte sie sich immer häufiger die Frage nach dem Warum. Warum musste Julia so früh gehen? Eine gläubige Tante meinte am Telefon zu ihr: »Gott irrt nicht«, und der Pfarrer ihrer Kirchengemeinde versuchte,
sie zu trösten, indem er sagte: »Wer weiß, vielleicht hat Gott ihr einen Gefallen getan. Vielleicht wäre ihr Leben unglücklich geworden.« So gut gemeint diese Antworten waren, für Evelyn waren sie zu einfach, zu unvollständig auch angesichts der Unerbittlichkeit dieses Todes. Wieder und wieder rief sie sich jede Einzelheit der Tage vor der Geburt, die Geburt selbst und die Stunden danach in Erinnerung. Irgendwie dachte sie, sie könne damit etwas an dem, was geschehen war, ändern. Natürlich war das absurd. Trotzdem klammerte sie sich an die abstrakte Hoffnung, ein Detail zu finden, das ihr bisher entgangen war und das ein neues Licht auf die Geschehnisse werfen würde.
Sobald sie etwas gefunden hatte, ging sie damit zu Carsten. »Erinnerst du dich an das, was der Arzt kurz vor der Geburt zu uns sagte? Wegen des Geschlechts? Sie konnten es monatelang nicht feststellen, aber plötzlich dann doch.«
Carsten ließ den Löffel in die Suppe sinken. »Es hat sich gedreht.«
»Sie hat sich gedreht«, korrigierte Evelyn.
»Ja, sicher. Sie. Sie hat sich gedreht, dadurch konnten sie das Geschlecht eindeutig feststellen.«
»Die Frage ist, ob diese Drehung normal war. Ich meine …«
»Evelyn, bitte. Das Mädchen …«
»Julia.«
Er nickte. »Julia kam gesund zur Welt. Sie haben sie nach der Geburt untersucht und nichts Ungewöhnliches gefunden.«
»Von dieser Untersuchung wissen wir überhaupt nichts. Wenn nun …«
»Kindstod«, seufzte er und schloss die Augen. »Plötzlicher Kindstod , das war die Ursache. So hat man es festgestellt. Nichts, was du spekulierst, wird daran etwas ändern.«
»Aber …«
»Bitte, Evelyn«, sagte er und rieb sich die Schläfen. »Ich kann nicht mehr. Wir haben doch wirklich schon häufig genug darüber gesprochen.«
Mit der Zeit hörte sie auf, ihre Gedanken mit Carsten zu teilen, und sie gab sich auch Mühe, nicht mehr ganz sooft daran zu denken. Die Schicht, die alle Gefühle in
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