Der Duft der grünen Papaya
hätte, was für eine Idiotin sie war, sondern weil sie die Geografie Afrikas mittlerweile in- und auswendig kannte und keinen Atlas mehr benötigte, um zu wissen, wo Lubumbashi lag. Dort war Carsten gewesen, als er sie an jenem Abend um siebzehn Uhr angerufen hatte. »Hallo, Schatz. Ich musste nach Lubumbashi fliegen. Leider kann ich nicht lange reden, zwei Direktoren stehen schon hinter mir und warten, dass ich mit ihnen verhandle. Ist alles in Ordnung? Gut. Morgen bin ich wieder zurück. Bis dann. Tschüs.«
Sie glaubte zuerst, er mache einen Scherz. Früher, am
Anfang ihrer Ehe, hatte er manchmal angerufen und behauptet, irgendwo anders zu sein, aber eine Minute später klingelte es dann an der Tür, und er stand mit einem Blumenstrauß vor ihr oder einer Schüssel selbst gemachter Mousse au chocolat oder etwas anderem, das ihr Freude bereitete. Das war lange her, ja, aber im ersten Moment fiel ihr keine andere Möglichkeit ein. Er konnte nicht weggeflogen sein. Nicht heute! Nicht an diesem Tag!
Also schob sie die Gardinen beiseite und lugte zum Fenster hinaus. Doch sie sah nur die blattlosen, vom Novembersturm gepeitschten Zweige der Vorgartensträucher und die sorgfältig aufgereihten Mülltonnen vor dem Haus. Das war unmöglich. Er würde doch niemals diesen besonderen Tag vergessen, diesen wichtigsten Tag von allen, an dem sie stets gemeinsam auf den Friedhof gingen und Hand in Hand vor Julias Grab standen. Nur an diesem Tag waren sie noch Mann und Frau, nur dort, im Angesicht der Katastrophe trennte ihr Schweigen sie nicht wie sonst, sondern vereinte sie. Diesen Tag zu verlieren, das war für Evelyn so, als würde sie alles verlieren.
»Nein!«, schrie sie mit aller Kraft. Der Schmerz stieg in ihr hoch wie Übelkeit, und dann geschah alles wie von selbst. Sie wankte ins Badezimmer, stolperte an der Schwelle. An diesem Tag hatte sie nichts getrunken, denn es wäre ihr wie eine Entweihung vorgekommen, den Geburts- und Todestag Julias mit Alkohol zu vernebeln. Aber die Tränen machten sie fast blind, sie sah alles verzerrt, entstellt, die ganze Welt war wie von Tränen umspült. Sie stand wieder auf und griff sich ein Küchenmesser. Ihre Hände zitterten. Sie blickte in den Spiegel und dachte an ihre Tochter, dieses kleine, hilflose Wesen, das vor genau vier Jahren gestorben war, drei Stunden alt. Von diesem Moment an war sie allein gewesen, jeden einzelnen Augenblick, allein mit diesem Schmerz, der alles durchdrang, den keine Wand und
keine Waffe aufhalten konnte, der sich in ihren Alltag drängte, in ihr Herz, in ihre Träume, der sie auf Schritt und Tritt begleitete und sich nicht abschütteln ließ, so als wäre er ein bösartiger Dämon, der sie quälte bis zum Tod.
Alles war besser, als nur noch für den Schmerz zu existieren.
Sie wollte nichts mehr davon. Sie wollte das Nichts. Sie setzte das Messer an der Pulsader an. Erneut blickte sie in den Spiegel, schloss die Augen.
In diesem Moment klingelte das Telefon.
Ihre Hände krallten sich um Rays Hemd. Sie schloss die Augen und lehnte sich gegen den Fensterrahmen. Eine Weile stand sie nur so da, starr, und wartete, dass der Schmerz verging. Tausendmal hatte sie dieses Gefühl schon erlebt und gewöhnte sich doch nie daran. Leiden war etwas, an das sich niemand gewöhnte.
Als sie wieder in den Garten des Aggie Grey’s blickte, war alles vorbei. Der Wind fächelte kühle Luft in den Raum, irgendwo draußen schepperten ein paar Teller, und ein kleines Sportflugzeug zog summend eine Linie über den Horizont. Sie setzte sich auf den nächstbesten Stuhl und spürte, wie sie sich entspannte. Kurz warf sie einen Blick zur Zimmerbar, wandte ihn aber sofort wieder ab wie von einer hässlichen Fratze.
Ziellos lief sie im Raum umher. Jetzt zu Ray zu gehen traute sie sich nicht. Er sollte nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht keine Frau mit ängstlichen Augen neben sich haben.
Der Zimmerservice fiel ihr ein. Sie könnte ein Frühstück bestellen, mit dem sie Ray überraschen würde. Sie wünschte sich, irgendetwas gemeinsam mit ihm zu tun, und auf keinen Fall hatte sie vor, ihn in den nächsten zwei Stunden zu verlassen.
»Zimmerservice? Ich hätte gerne ein Frühstück bestellt für zwei Personen. Wie bitte? Oh, ich nehme einen Obstsalat, ein Croissant mit Marmelade und ein Ei.«
Sie überlegte schnell, was ein typischer Amerikaner wohl gerne hätte, und sagte: »Rühreier mit Speck und Würstchen, bitte, und ein Blaubeerpfannkuchen mit Sirup. In einer
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