Der Duft der grünen Papaya
auszutragen, und von da an jeden Tag einen trägen Nichtsnutz um sich zu haben, der sich zweimal in der Woche dazu aufraffte, in die Haine seiner Familie zu schlurfen, und den Rest der Zeit döste oder palaverte. Denn das war die männlich-samoanische Realität, war es immer gewesen. Die Lustlosigkeit lag ihnen im Blut! Schon bei der Vorstellung von einem solchen Mann bekam sie Bläschen auf den Lippen.
Mit sechzehn kaufte sie sich daher ein Schminkset und ein halbwegs schickes Kleid. Sie musste ihr ganzes gespartes Geld dafür ausgeben, aber die Investition lohnte sich, denn von da an bekam sie Zutritt zu den Touristenbars von Apia. Keinen einzigen der Drinks dort konnte sie selbst bezahlen, doch das musste sie auch nicht, denn die meisten Australier und Amerikaner waren spendabel – vor allem die Japaner. So spielte sie denn viele Abende lang die Geisha, wobei sie Acht gab, nie zu weit zu gehen, aber noch mehr darauf achtete, dass irgendetwas Schönes für sie abfiel: Geld, Schmuck, Sandalen, manchmal auch nur das Gefühl von Champagner auf der Zunge. Und immer spielte sie mit der Hoffnung, eines Tages entdeckt zu werden, von einem Geschäftsmann, einem Model-Scout oder einfach von einem wohlhabenden Mann auf der Suche nach einer schönen Ehefrau.
Fünf Jahre lang hatte sie vergebens auf ihren Retter gewartet. Nun war es endlich so weit.
Sie holte das Bündel Geld hervor, das Raymond ihr gestern überraschenderweise in die Hand gedrückt hatte, damit sie sich ein paar schöne Sachen kaufen könne. Zweitausend Dollar, man stelle sich das vor! So viel Geld hatte er ihr noch nie gegeben.
Sie betrat eine der Boutiquen und sah sich um. Es drängte sie danach, irgendetwas zu kaufen, das ihr im wahrsten Sinn des Wortes »begreiflich« machen würde, dass von nun an jeder Tag ein schöner Tag wäre.
Mit gespielter Gleichgültigkeit betrachtete sie die Blusen und Stoffe. Sie hatte den typischen Gesichtsausdruck wohlhabender Kundinnen schon damals in Sydney bemerkt und häufig vor dem Spiegel geübt. Einige Stoffe befühlte sie nur, um sie gleich danach wieder zu ignorieren, andere unterzog sie einer skeptischen Prüfung, bevor sie die Lippen spitzte, die Augenbrauen hochzog und der Verkäuferin
bedeutete, den Artikel nehme sie in die engere Wahl. Preisschilder ignorierte sie geflissentlich. Als sie nach einer Weile fand, sie habe genug gestöbert, betrachtete sie den kleinen Kleiderberg, der sich mittlerweile für die engere Wahl angehäuft hatte, und sagte: »Ach, ich nehme das alles.«
Eine Minute lang wurde sie von einem unsagbaren Glücksgefühl durchströmt. Fast ihr ganzes Leben lang hatte sie darauf gewartet, diesen Satz aussprechen und beobachten zu können, wie eine Verkäuferin die Artikel nacheinander faltete wie kostbares Pergament und in die Tüten sortierte. Mindestens tausendmal war dies ihr letztes Bild gewesen, bevor sie einschlief, und nun passierte es wirklich.
Sie war am Ziel.
Plötzlich jedoch durchzuckte sie ein Schreck: Was, wenn sie soeben für mehr als zweitausend Dollar eingekauft hatte? Sie hatte sich nicht nach den Preisen erkundigt. Wie blamabel, falls sie die Verkäuferin bitten müsste, einzelne Teile wieder aus den Tüten herauszunehmen. Raymond hätte ihr ruhig seine Kreditkarte überlassen können, dieser Geizhals. Schließlich verdankte er ihr das lukrative Geschäft mit Moana und den schönsten Flecken auf ganz Savaii.
»Eintausendachthundertsiebzig Dollar«, sagte die Verkäuferin.
Ane fiel ein Stein vom Herzen, aber selbstverständlich ließ sie sich das nicht anmerken. »Oh, das habe ich zufällig in bar«, flötete sie und blätterte neunzehn Hundert-Dollar-Noten auf den Kassentisch. So wie sie es immer gewollt hatte, mit einem halben Dutzend Tüten in den Händen, verließ sie die Boutique und schlenderte weiter über die Promenade. Eigentlich hätte sie jetzt vergnügt sein müssen, doch so war es nicht. Der kleine Schreck in der Boutique
hatte ihr die Laune verdorben. Es spielte keine Rolle, dass die Sache glimpflich ausgegangen war; entscheidend war, dass sie auch hätte nicht glimpflich ausgehen können. Was besaß sie denn jetzt schon noch? Einhundertdreißig Dollar, mehr nicht. Welche von den Versprechen, die Raymond ihr seit Wochen gab, hatte er bisher eingelöst? Weder die Greencard für Amerika war eingetroffen, von der er immer faselte, noch war das Telefonat mit einem Modedesigner zustande gekommen, den Raymond angeblich kannte und der auf der Suche nach
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