Der Duft der grünen Papaya
Tupu. Ich muss gleich den Befehl geben.« Er machte eine Pause, dann sagte er: »Ich wollte … Ich wollte, es wäre alles anders gekommen. Wenn ich nur … Ich weiß nicht, was ich anders hätte machen sollen. Weißt du es?«
Tristan hoffte, Tupu würde ein Wort der Entschuldigung finden, doch er hoffte vergebens. Tupu sagte nichts mehr, er zitterte bloß noch.
»Soll ich Ivana oder sonst jemandem etwas von dir sagen? Einen letzten Gruß vielleicht?«
Erneut kam keine Antwort.
Tristan band dem jungen Samoaner die Augen zu.
Schweren Herzens wandte er sich um und trat neben das vierköpfige Kommando.
Er versuchte, sich im Geiste auf das Handbuch zu konzentrieren. Achtung , war der nächste Befehl.
»Achtung«, befahl Tristan. Durch die Fita-Fita ging ein Ruck.
Noch einmal sah er zu Tupu, der inzwischen auf die Knie gesunken war. Und plötzlich wusste Tristan nicht mehr, ob er es fertig brächte, den Schießbefehl zu geben.
Legt an , befahl das Handbuch.
»Legt an«, befahl Tristan.
Er war sich jetzt sicher, den Befehl nicht geben zu können. Er war kein Soldat, war nie einer gewesen, würde bald keiner mehr sein.
Ich bin Önologe, sagte er sich. Ich liebe die Natur, die Ernte. Mein Gott, ich habe Äpfel eingesammelt und beim Heuen geholfen. Ich will Papayas pflanzen.
Er zog den Degen.
Zielen. Feuer , befahl das Handbuch.
Er reckte den Degen gen Himmel. Er war ein Arnsberg.
7
Samoa, November 2005
»Er zitterte kaum weniger als Tupu, als er so dastand, beobachtet von seinem Vorgesetzten, von den deutschen Siedlern und den Samoanern, alles Menschen, mit denen er in guter Nachbarschaft hatte leben wollen«, berichtete Ili mit belegter Stimme. »Er fühlte sich allen verpflichtet, den einen wie den anderen. Jedem und allem wollte er es recht machen: seinem kranken Vater und seinem Namen, seiner alten Heimat und seiner neuen Heimat, seiner deutschen Familie und seiner samoanischen. Tristans Wurzeln in Samoa waren zu jung, um schon stark zu sein, und seine deutschen waren noch zu prägend, als dass er sie vollständig abgestoßen hätte.«
»Wie ging es weiter?«, fragte Evelyn gebannt.
»Tuila war inzwischen bis Salelologa gelaufen. Sie war völlig außer Atem und hatte Ivana und Vaonila weit hinter sich gelassen. Von der Gerichtsverhandlung und der bevorstehenden Exekution konnte sie noch nichts wissen, aber – wie sie mir später erzählte – ahnte sie ein Unglück. In Fetzen kam ihr das nächtliche Gespräch mit Tristan in den Sinn, seine Schlaflosigkeit, seine hypothetische Frage nach der Familie des Mörders, ihre ungeschickten Antworten … Nach und nach, während sie rannte, begriff sie, was geschehen war: Tupu war ein Mörder und Tristan sein Henker. Sie liebte sie, beide waren ein Teil von ihr, und sie empfand körperlichen Schmerz bei der Vorstellung, dass ein Teil den anderen aus ihr herausreißen würde. Sie glaubte, noch etwas retten zu können, wenn nicht Tupu, so doch Tristan. Er durfte Tupu nicht erschießen. Jeder andere, aber er nicht. Wenn sie nur schnell genug wäre …«
Ili stand auf und ging ein paar Schritte über den nachtkühlen Sand, bis ihre alten Füße vom Meer überspült wurden.
Ohne Evelyn anzusehen, fuhr sie fort: »Als sie an der Station ankam, lag der beißende Geruch des Pulverdampfes noch in der Luft.«
»Tristan hat tatsächlich den Befehl gegeben?«, fragte Evelyn. Irgendwie hatte sie auf das Gegenteil gehofft, trotz Tupus Taten und der Tatsache, dass Tristan im anderen Fall einige Jahre in ein deutsches Gefängnis gekommen wäre, fort von Tuila. Sie war der Meinung, dass Tuila diese Zeit überstanden hätte, gleichgültig ob in Samoa oder Arnsberg oder an einem anderen Ort. Ganz gewiss, Tuila hätte es geschafft. Sie war stärker, als Tristan glaubte. Und – sie war stärker als Tristan.
Ili sah sie an. »Ja, er hat Tupu erschossen.«
»Aber doch nicht er selbst?«
»Dass er es nicht mit eigener Hand und Waffe getan hat, ist nur ein unwichtiges Detail. Er hat Tupu getötet.«
Ili ging wieder zu Evelyn zurück. »Tuila kniete sich neben den Erschossenen, beugte sich über ihn und weinte. Tupus Körper wies vier unschöne Einschüsse auf, der ganze Oberkörper war blutverschmiert, und die Augen starrten weit offen ins Nirgendwo. Sie schloss sie und machte sich daran, Tupu mit einem Kleiderfetzen zu säubern. Man ließ sie gewähren. Rassnitz war gleich nach der Exekution gegangen, ebenso die beiden deutschen Siedler. Einzig die zehn Samoaner
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