Der Duft der grünen Papaya
abbekommen«, sagte Ili, griff nach der Flasche und gönnte sich auch einen Schluck. Das letzte Mal hatte sie vor mehr als sechzig Jahren Alkohol getrunken, eine Schale Reiswein mit Senji, und der Geschmack des Champagners war derart ungewohnt, dass sie das Gesicht verzog. Trotzdem trank sie einen weiteren Schluck.
Endlich sah Evelyn zu ihr herüber. »Warum trinken Sie ihn, wenn er – wenn er Ihnen nicht schmeckt?« Evelyn hatte bereits Mühe, einen klaren Satz zu sprechen.
»Wie ich schon sagte: Ich finde, Sie haben genug. Und da ich nichts davon halte, den Champagner wegzukippen, als seien Sie ein vierzehnjähriges Mädchen und ich Ihre abstinente Gouvernante, trinke ich das Zeug lieber selbst. Eine elegante Lösung, finden Sie nicht?«
Ili lächelte, was aber anscheinend nicht ansteckend war.
»Oh, Evelyn, ziehen Sie nicht so ein Gesicht, als würde morgen die Welt untergehen. Wenn Sie sich gerade überlegen, wie Sie mir eine schlimme Nachricht beibringen können, kann ich Sie beruhigen: Ich weiß schon Bescheid.«
»Sie … woher denn?«
»Der alte Ben«, erwiderte Ili, was ihrer Ansicht nach alles erklärte.
Evelyn brach plötzlich in Tränen aus. Sie beugte sich nach vorn und schluchzte. »Er hat … Er hat mich angelogen …, hat mir wehgetan … Gerade als ich dachte, dass er und ich … Ich will nichts mehr von ihm wissen, wir sind am Ende. Ich lasse mich scheiden. Er ist ein elender Wurm, schiebt seine Bank vor, Wirtschaftsinteressen, Arbeitsplätze, Brutto … Bruttosozialprodukte und was weiß ich. Aber ich weiß, dass er mich im Grunde nur bestrafen will. Nur darum tut er das.«
Ili fuhr Evelyn über die weichen Haare. »Bestrafen wofür?«
»Ich weiß nicht. Für alles. Dafür, dass ich früher stärker war als er … für die letzten Jahre … für das, was er durch meine Schuld verpasst hat … für meine Flucht … für … für Julia.«
Ili streichelte sie weiter. »Glauben Sie das wirklich, Evelyn? Sie kennen Ihren Mann. Halten Sie ihn für jemanden, der so etwas tut?«
Evelyn schwieg.
»Und selbst wenn«, fuhr Ili fort, »ist das der Hauptgrund, weshalb Sie so zornig sind?«
»Ich bin nicht zornig. Ich bin verletzt.«
»Sie sind verletzt und zornig.«
»Ich habe alles Recht dazu, oder nicht? Er trifft sich mit mir, schenkt mir ein Ticket, eine Traumreise … Wie ein Rattenfänger wollte er mich von hier weglocken.«
»Nun, es hat anscheinend nicht geklappt. Also, warum sitzen Sie hier und trinken wieder, obwohl es Ihnen bereits besser ging?«
»Weil …« Evelyn rang, schluchzend und schwer atmend, um eine Antwort. »Weil er …«
»Weil was? Er hat Sie enttäuscht, na schön, aber das hat
er – wenn ich Sie neulich richtig verstanden habe – seit Jahren getan. Was war heute Abend anders? Was?«
»Das … das fragen Sie noch? Kettner, das Land, Ihr Land … Die haben gewonnen, Ili.«
Sie nickte. »Er hat gewonnen. Das ist es, nicht wahr? Carsten hat gewonnen. Deswegen trinken Sie wieder, weil Sie glauben, schon wieder etwas verloren zu haben, diesmal nicht Ihr Kind, sondern Ihren Stolz. Aber wenn Sie Ihren Stolz tatsächlich vorübergehend verloren haben, dann nicht wegen Ihres Mannes, sondern wegen Ray Kettner.«
Evelyn ließ ihren Kopf auf Ilis Schulter sinken, und die Tränen liefen über ihr Gesicht.
»Sie haben es genossen«, stellte Ili ohne Vorwurf fest und berührte mit ihrer Wange Evelyns Scheitel. »Als Sie Ihren Mann mit Ray Kettner betrogen, da fühlten Sie sich ihm zum ersten Mal seit Jahren überlegen, und nachdem der vermeintliche Supermann sich als Schwindler entpuppte, waren Sie wütend auf sich selbst. Carstens plötzliches Auftauchen mag Sie vielleicht überrascht haben, aber im Grunde war es Ihnen recht. An ihm konnten Sie alles abreagieren, und damit fühlten Sie sich erneut überlegen – nach unserem kurzzeitigen ›Sieg‹ ohnehin. Vielleicht nicht absichtlich, doch etwas in Ihnen genoss Carstens Lage als unterlegener Kontrahent. Überlegen Sie: Erst als sich unser Blatt wendete und Carsten und Kettner vermeintlich auf der Verliererseite standen, haben Sie sich entgegenkommend gezeigt, bereit zur Versöhnung. Ich schätze also, der Abend in der Bar sollte nicht nur einfach zum Friedensschluss werden, sondern auch – klammheimlich – zu Ihrem Triumphzug. Habe ich Recht?«
Ili atmete tief durch, nachdem Evelyns Blick beschämt Zustimmung ausgedrückt hatte. »Machen Sie sich nichts draus, Ihr Verhalten ist nur zu
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