Der Duft der grünen Papaya
verständlich. Doch dann kam alles anders, als gedacht, nicht wahr? Nun sind wir die
Verlierer. Ich – aber auch Sie, Evelyn, denn Sie haben ebenso gekämpft.«
»Ich fühle mich schwach«, murmelte Evelyn. »Schwächer noch als vorher. Nicht körperlich, sondern …«
»Ich weiß«, seufzte Ili. »Ich kenne das Gefühl sehr gut. Aber machen Sie jetzt um Himmels willen nicht den gleichen Fehler wie ich.«
Evelyn richtete sich auf und wischte sich einige Tränen von der Wange. »Welchen Fehler meinen Sie?«
Ili presste die Lippen zusammen, überlegte einen Moment und sagte: »Sagen Sie, lieben Sie Ihren Mann noch.«
Evelyn schluckte. »Ja«, erwiderte sie intuitiv. »Ich glaube, ja.«
»Dann kommen Sie, Evelyn, wir laufen ein Stück zusammen.«
Ili ließ die Kerze zurück und spazierte mit Evelyn den Strand entlang. Unter ihren bloßen Füßen schmatzte der Sand, und zwischen den Wolken schien der Mond wie in Watte verpackt und überzog die Dinge mit einem weißlichen, unwirklichen Licht.
Es fiel Ili nicht leicht, darüber zu reden, und selbst als die Flamme hinter ihnen nur noch ein winziger gelber Lichtpunkt war, fand sie noch immer nicht den richtigen Anfang. Sie hatte Evelyn in den vergangenen Tagen viel erzählt, aber das jetzt war etwas anderes. Die Liebe ihrer Eltern und der Kampf zwischen Tupu und Tristan waren nur Geschichten. Gewiss, wahre und lebendige Geschichten, weil das Haus, die Plantage, die Wälder und die Bucht die Vergangenheit in die Gegenwart trugen und die Toten auf eine gewisse Art weiterleben ließen, da man sich an sie erinnerte. Immer wieder meinte sie, die Stimme ihrer Mutter zu hören, die ihren Namen in die Bucht rief: »Ili, komm ins Haus, es wird dunkel.« Manchmal glaubte sie, die schwere Hand ihrer Großmutter Vaonila auf ihrem Hinterkopf
zu spüren, und in seltenen Momenten war ihr sogar Tristan gegenwärtig, und sie stellte sich vor, wie er die Veranda gebaut, wie er aufs Meer gesehen oder den Mafane erklommen hatte. Ivana und Moana jedoch, und natürlich Senji, hatten viele Jahre mit ihr verbracht, und ihre Gegenwart im Papaya-Palast war für Ili an jedem einzelnen Tag unmittelbar fühlbar, auf die eine oder andere Weise. Sie waren keine romanhaften Schatten oder ferne, verschwommene Kindheitserinnerungen, sondern fester Bestandteil eines neunzigjährigen Lebens – nicht eine Geschichte, ihre Geschichte, nicht die Fehler, Niederlagen und dunklen Seiten anderer, sondern die ihren.
»Es gibt immer drei Möglichkeiten, auf eine Niederlage zu reagieren«, begann sie. »Mit Beharrlichkeit, mit Resignation – und mit Rache. Ich habe mir diese Möglichkeiten immer als Pfade vorgestellt, die einen, je nachdem, welchen man einschlägt, an einen völlig anderen Punkt des Lebens führen. Zwei davon – die beiden letzten – scheinen eben zu verlaufen, der dritte geht bergan, und die Verführung, ihn zu meiden und die anderen einzuschlagen, ist immens. Wir finden immer Gründe dafür, nicht beharrlich bergan zu schreiten: Wir halten uns für zu schwach und zu müde, haben es zu eilig, fühlen uns übergangen oder betrogen oder missverstanden, sind bequem oder zornig oder gekränkt … Ach, was denken wir uns nicht alles aus! Und dann wählen wir einfach einen anderen Pfad. Es ist leicht, aufzugeben oder andere verantwortlich zu machen und zu bestrafen. Sogar uns selbst bestrafen wir oft lieber, als ungewisse Mühen auf uns zu nehmen. Und aufzugeben ist eine Selbstbestrafung.«
»Ich hatte mich aufgegeben, das stimmt«, sagte Evelyn, bemüht, deutlich zu sprechen. »Ich war ziemlich unerträglich – bin unerträglich –, am meisten für mich selbst. Aber Sie, Ili … das kann ich mir bei Ihnen nicht vorstellen.«
Ili blieb stehen und blickte in die Dunkelheit des Meeres. »Auch ich bin nicht immer nur einen Pfad gegangen.«
Sie spürte Evelyns Blick auf sich gerichtet, sah jedoch weiterhin auf den blauschwarzen Horizont. Der Moment war gekommen, vor dem sie immer schon Angst gehabt hatte, der Moment, wenn jemand anderer ein Urteil fällen würde über das, was sie getan hatte. Nur zwei Menschen außer ihr wussten noch davon: Moana, die auf ihre Weise beteiligt und befangen war, und der alte Ben, der nie Stellung beziehen wollte. Zum ersten Mal gab es nun die Situation, dass sie einer anderen Frau genug vertraute, um sie in ihre eigene Vergangenheit einzuweihen.
Samoa, 1919 bis 1925
Als im Juli 1919 die erste Papayaernte erfolgreich abgeschlossen war und
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