Der Duft der grünen Papaya
Zeit, wann sie dich verrät. Nicht, dass sie es absichtlich täte. Nein, sie trägt ihn in sich, den Verrat, sie kann gar nicht anders, als ihn auszuleben.
Noch ist sie klein, und die Falschheit gedeiht langsam. Irgendwann, im nächsten Jahr vielleicht oder auch erst in drei Jahren, wird Ili sich gegen dich wenden. Du wirst merken, wenn es so weit ist.«
»Wie?«, fragte Moana ängstlich.
»Du wirst wissen, wenn der Tag gekommen ist. Du wirst die Wahrheit erkennen.«
Moana wartete von da an auf den Tag, der die Wahrheit ans Licht bringen würde; sie wartete darauf, dass Ili sie verriet. Noch häufiger als zuvor versicherte sie sich der Freundschaft und Gefolgschaft ihrer jüngeren Spielgefährten und ahnte doch, dass all dies nichts nützen würde. Sie versuchte, sich auch mit anderen Mädchen anzufreunden, die auf die gleiche Missionsschule gingen, doch die meisten Mädchen wollten entweder nichts von ihr wissen oder beachteten die schönen Dinge nicht, die sie ihnen zeigte, und einige wenige waren Mischlinge wie Ili, in denen vermutlich auch schon die Falschheit gedieh, wie ihre Mutter das ausgedrückt hatte.
Ivana war nicht so dumm, ihrer Tochter den weiteren Umgang mit Ili zu verbieten, auch wenn ihr diese Entscheidung schwer fiel, ja, auch schon früher schwer gefallen war. Immer wenn sie Moana mit Ili sah, krampfte sich ihr Herz zusammen, und sie wünschte, Ili wäre nie geboren worden. Bitterkeit ergriff sie, wenn sie dieses Kind beobachtete, körperliche Schmerzen und schließlich sogar Hass, denn in Ili lebte Tristan weiter. Doch sie begriff, dass ein Verbot wahrscheinlich nur zu Trauer und Unverständnis bei Moana geführt hätte, und das Letzte, was Ivana wollte, war, dass ihre Tochter Ili nachtrauerte. So ließ sie die Kinder gewähren und wartete geduldig auf das Aufkeimen der Saat.
Ein einziges Mal in diesen Jahren hatte sie Anlass zur
Hoffnung, dass die Freundschaft der Cousinen zerbrechen könnte.
Die beiden waren auf dem Nachhauseweg von Palauli zum Papaya-Palast, wo Moana eine Überraschung für Ili vorbereitet hatte. Ein klägliches Piepen unter einem Hibiskus hielt sie auf, und sie entdeckten einen verletzten Vogel. Er war wenig farbenprächtig, so dass Moana schnell das Interesse an ihm verlor.
»Komm weiter«, sagte sie.
»Wir können ihn doch hier nicht so liegen lassen.«
Moana hob das Bein, doch Ili konnte im letzten Moment verhindern, dass der Vogel zertrampelt wurde.
»Er leidet«, erklärte Moana ungeduldig. »Wir tun ihm einen Gefallen, wenn wir ihn töten.«
»Wenn man jeden, der verletzt ist und ein wenig leidet, sofort umbringen würde, wäre die Welt bald menschenleer.«
Moana verdrehte die Augen. »Was du wieder daherredest! Der Vogel hält uns nur auf. Und ich habe doch eine Überraschung für dich, ein Geschenk.«
Ili wickelte ihn in ein kleines Tuch, so dass nur noch sein Kopf herausragte, und schob ihn vorsichtig zwischen die Falten ihres Kleides. Die Mädchen gingen wieder weiter und sprachen nur noch von dem Geschenk, denn Moana bestand darauf, dass Ili erriet, was es war.
Im Garten des Papaya-Palastes lüftete Moana das Geheimnis und überreichte Ili einen Ring. Fassung und Reif waren aus biegsamen Zweigen geformt, und in der Mitte klemmte der Splitter einer Glasmurmel. Gemessen daran, wie ungern und selten Moana handwerkliche Tätigkeiten ausübte, hatte sie viel Mühe und Zeit auf das kindliche Schmuckstück verwendet, und Ili bedankte sich herzlich. Dann fiel ihr jedoch der Vogel wieder ein.
»Ich muss mich um ihn kümmern«, sagte Ili.
»Das kannst du doch später machen.«
»Nein, das kann nicht warten. Er muss vielleicht geschient werden, und das kann nur meine Mutter.«
»Du hast noch gar nichts zu dem Ring gesagt.«
»Er ist wunderschön.«
»Ja? Was findest du schön an ihm?«
»Wir reden später noch einmal über den Ring. Jetzt suche ich erst meine Mutter. Möchtest du mitkommen?«
»Nein.«
»Vielen Dank noch mal, Moana. Bis nachher.«
Als Moana ins Haus zu ihrer Mutter ging, verdrängte sie ihre Enttäuschung, die mit Wut gepaart war. Ihr Ring war kaum gewürdigt worden, und der Vogel hatte alle Beachtung bekommen. Ivana spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie ließ sich von ihrer Tochter den Vorfall berichten, lächelte kurz und seufzte dann: »Was soll ich dazu sagen, Moana? Es hat angefangen.«
Misstrauisch verfolgte Moana von da an, was Ili sagte und tat und was sie nicht sagte und tat. Und tatsächlich: Je genauer sie das
Weitere Kostenlose Bücher