Der Duft der grünen Papaya
wollte diese Verabredung mit Senji ganz für sich haben, weil es etwas bisher Einmaliges für sie war, sich im Morgengrauen mit einem Mann im Obsthain zu treffen. Es erinnerte sie an die Geschichte, die Tuila ihr darüber
erzählt hatte, wie sie Tristan kennen gelernt hatte, die Geschichte von einer Zeit, in der ihre Eltern sich noch unbeschwert hatten lieben dürfen.
Ili wagte nicht, Senjis Schweigen zu durchbrechen, obwohl sich das Warten hinzog. Sein Schweigen hatte etwas Durchdachtes, etwas Schönes, wie von der Natur Vorgesehenes. Es war ohne jede Verlegenheit oder Langeweile. Mit halb offenem Mund, beinahe vorsichtig, blickte er zu den Kronen hinauf, dann wieder zwischen den Stämmen hindurch. Und als die Dämmerung anbrach, entstand eine warme, intime Atmosphäre zwischen ihnen, so als lebe Senji in einem Traum, in den sie langsam eindringen konnte. Er lehnte noch immer am Stamm, die Hände in die Taschen der dreiviertellangen Arbeiterhose gesteckt. Ili ahnte seinen Körper, ahnte die flachen Muskeln seiner Brust, die sich unter dem schmutzigen Hemd bewegten, ahnte die dünnen, festen Beine.
Und dann erglühte der Himmel durch das Dach der Papayablätter. Senjis Gesicht war von einem kupfernen Schimmer überzogen. Er zog die Hände aus den Hosentaschen und sagte: »Gleich ist es so weit.«
Sie konnte ihren Blick nicht mehr von ihm abwenden. Langsam verschwand der kupferne Schimmer von seinem Gesicht. Mit dem klarer werdenden Licht schien sein Ausdruck fester zu werden, erwartungsvoller.
»Jetzt«, sagte er. »Also, was sehen Sie?«
Irritiert und enttäuscht, weil sie den Blick von ihm abwenden musste, antwortete sie seufzend: »Papayas. Ich sehe Papayabäume.«
»Sie scheinen ein schwieriger Fall zu sein«, sagte er und lächelte. »Machen Sie einen Spaziergang.«
»Durch die Plantage?«
»Aber ja.«
»Wozu?«
»Das werden Sie schon sehen. Ich müsste mich sehr in Ihnen täuschen, wenn Sie nicht …« Er lächelte wieder.
»Wenn ich nicht was?«
»Nun gehen Sie endlich.« Er scheuchte sie davon. »Ich warte hier.«
Sie war noch nie grundlos durch den Hain spazieren gegangen. Als Kind hatte sie hier gespielt, und später war es ihr Arbeitsplatz, so dass die Papayas stets einen praktischen Nutzen für sie gehabt hatten. Wenn man sie gelegentlich fragte, warum sie nicht auf Kokos, Mangos, Ananas oder Kakao umstieg, antwortete sie stets, dass Papayas die ökonomischsten Pflanzen seien, die sie kenne: ein glatter, schlanker Wuchs, ein paar spärliche Seitentriebe in der Krone, mit so gut wie mit jedem Boden zufrieden, anspruchslos und dennoch über und über voll mit dicken, grünen Früchten. Ein Wunder an Rationalität!
Anders hatte sie die Bäume nie betrachtet.
Jeder Schritt, den sie barfuß auf dem weichen Boden machte, knisterte leise. Ein paar schräge, mit Staubkörnchen durchsetzte Sonnenstrahlen waren alles, was das Blätterdach durchließ, ansonsten leuchtete die Pflanzung in einem sanften Licht wie unter einem riesigen Schirm. So hatte sie ihren Hain noch nie wahrgenommen. Kleinigkeiten fielen ihr auf. Die jungen Bäume, die vereinzelt gezogen wurden, waren von einer zartgrünen Tönung, während die etwas älteren ein sattes, dunkles Grün angenommen hatten. Hoch oben blitzten die Baumfächer wie silberne Fontänen in der diesigen Sonne.
Ili kam sich vor wie eine Kellerblüte, die nach Jahren und Jahren in trüber Dunkelheit sich erstmals öffnet und die Welt sieht. Ihr ganzes Leben lang kannte sie diese Pflanzung, sie war ein Teil von ihr. Nicht einen Tag lang war sie ohne Papayas gewesen. Und dennoch hatte sie dieses Licht bisher noch nie wahrgenommen. Sie hatte es gewiss schon
einmal gesehen, vielleicht auch schon hundert Male – und doch auch wieder nicht. Sie hatte – um mit Senjis Worten zu sprechen – durch die Bäume und das Licht und die Stimmung hindurch gesehen.
So wie durch Moana. Das sollte Senjis Meinung nach wohl die Lehre aus diesem Spaziergang im Zauberwald sein.
Ili ließ sich Zeit bei ihrem Streifzug durch die Baumreihen, blieb immer wieder stehen, setzte sich auf den Boden, legte die Hand auf die Brust.
Als sie irgendwann zurückging und vor Senji stand, hatte sie das Gefühl, dass ein Teil von ihm auf sie übergegangen war.
Sie sah ihn an, lächelte und sagte: »Ou te alofa ia te oe . Ich liebe dich.«
»Du heiratest Moana nur aus Dankbarkeit, weil sie dir Geld für deine Mutter gegeben hat.«
Sie waren im Papaya-Palast, und Ili konnte sich
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