Der Duft der grünen Papaya
erlauben, laut zu werden. Keiner außer ihnen war da, denn die Arbeiten in der Plantage waren abgeschlossen. Vor zwei Tagen und einem halben hatte sie Senji ihre Liebe gestanden, und seither hatten sie sich nicht mehr sprechen können. Zuerst waren sie von Arbeitern gestört worden, und später hatte Moana ihren Verlobten mit Beschlag belegt. Zwei volle Tage lang hatten sie sich mal hier und mal da aus der Ferne gesehen und hatten knappe Blicke getauscht. Ili war beinahe verrückt geworden. Heute Morgen endlich war Moana nach Palauli gegangen, um ihr Hochzeitsgewand von einer erfahrenen Frau schmücken zu lassen. Er war sofort zu Ili gekommen – aber nur, um ihr zu sagen, dass er weiterhin vorhabe, Moana zu heiraten.
»Man hat meiner Mutter ein zweites Leben geschenkt, Ili. Gestern kam ein Brief von ihr aus Sydney. Sie ist gesund.
Moanas Zuneigung zu mir hat meine Mutter gesund gemacht.«
»Das ist eine poetische, aber lächerliche Formulierung«, widersprach sie. »Moanas Geld hat dafür gesorgt, dass deine Mutter zu Spezialisten in Australien gehen konnte, und die waren es, die deine Mutter gesund gemacht haben. So wie du es ausdrückst, hört es sich an, als sei ihre unsterbliche Liebe ein heilendes Tonikum für deine Mutter gewesen.«
»Man hat mich gelehrt«, erwiderte er ruhig, »die Dinge so zu sehen.«
»Selbst wenn du sie so siehst: Darf Moana dich einfach kaufen? Ach, was frage ich noch. Sie kauft ja alles! Hat ja auch das Geld dazu! Das Geld, das diese Hände jeden Tag erarbeiten!« Sie streckte sie ihm zitternd vor Aufregung hin, wandte sich abrupt ab und brach in Tränen aus.
Er ging ein paar Schritte durch den Raum. Ilis Haus mit seiner kühlen, von Bougainvilleen umrankten Veranda, seiner hellen Einrichtung und seinen Büchern schien ihm zu gefallen. Er streichelte Tristans Vermächtnis, die Buchrücken der Romane von Fontane, Thomas Mann und Annette von Droste-Hülshoff, die Südseeromane von Stevenson und Melville, die Gedichtbände von Goethe, Morgenstern und Zweig.
»Sie hat eine verwundete Seele, die ich ihr verbinden kann«, sagte er. »Deine Seele hat es einfacher.«
»Ja, natürlich!«, entgegnete sie sarkastisch. »Meine Seele hat es sehr einfach. Sie kämpft nur jeden Tag um ihre Existenz, das ist alles, mehr nicht. Was ist das schon? Dass mir nichts bleibt, als jeden Tag zu schuften, dass ich mir meine Weihnachtsgeschenke selbst kaufen muss, dass ich einsam bin … Sicher, Moana hat es bedeutend schwerer als ich. Ihr liegen so viele Männer zu Füßen, dass sie nicht weiß, wen sie wählen soll. Alle bewundern ihre Schönheit …«
»Du bist die Stärkere«, unterbrach er sie. »Du hungerst vielleicht, Ili, aber Moana ver hungert. Ist dir noch nie der Gedanke gekommen, dass sich hinter ihrer koketten, selbstgefälligen Art eine große Unsicherheit und Schwäche verbirgt? Sie leidet, mehr noch als du, unter eurer Feindschaft und darunter, wie es dazu gekommen ist, und sie hat sich instinktiv einen Menschen gesucht, der ihr helfen kann.«
Ili schluckte. Aus dieser Perspektive hatte sie Moana tatsächlich nie betrachtet. Vielleicht stimmte es, vielleicht brauchte ihre Cousine die Betonung ihrer äußerlichen Attribute, um Halt zu finden. War nicht schon Tupu ein tief verunsicherter Mensch gewesen? Hatte sich nicht schon Ivana aus Loyalität – und Dummheit – in ein brüchiges Geflecht aus Lügen und halben Wahrheiten verstrickt, aus dem sie nicht mehr herauskam? Ili musste an ihre Kindheit denken, als Moana wieder und wieder die Bestätigung von ihr haben wollte, dass sie die Liebste, Beste und Schönste sei und dass Ili sie nicht verlassen würde.
»Nun gut«, sagte Ili. »Du meinst, es ist deine Pflicht, Moana zu helfen. Aber über Pflicht weiß ich auch einiges, weiß, wohin sie einen bringen kann. Mein Vater war so ein pflichtbewusster Mensch. Er fühlte sich der Familie ebenso verpflichtet wie dem Vaterland und den Traditionen und der Gerechtigkeit. Er fühlte sich so vielen Dingen gegenüber verpflichtet, dass er immer nur kurz das tat, was seine innere Stimme ihm riet, und die übrige Zeit der Pflicht folgte. Ein Sprichwort sagt: Wer zwei Hasen hinterherläuft, fängt am Ende keinen. Tristan starb, weil er ein guter Soldat sein und weil er anderen damit etwas beweisen wollte. Wenn du Moana heiratest, Senji, verleugnest du deine Gefühle, und das wird dich bis an dein Lebensende verfolgen.«
Sie stellte sich in den Türrahmen, versperrte ihn mit den
Armen und sagte:
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