Der Duft der grünen Papaya
Hals. Er war betrunken, in der Hand trug er eine halb volle Flasche Gin, die er immer wieder kurz ansetzte und sich dann mit dem
Arm über den Mund fuhr. Tino feuerte Moana an, aber es war ihm auch egal, wenn sie einen Schlag oder Stoß einstecken musste. Für ihn war dieser Kampf ein großer Spaß.
Nicht so für Ili. Einmal schleuderte sie ihre Cousine so nahe an den Rand der Klippen, dass diese beinahe abgestürzt wäre. Im letzten Moment konnte Moana sich an einer Grasnarbe festhalten und so ihr Leben retten, doch Ili nutzte ihre momentane Wehrlosigkeit aus, um ihr einen weiteren Schlag zu versetzen, der Moana fast doch noch das Leben gekostet hätte. Im letzten Moment erst besann sich Ili. Sie rannte am kichernden, wankenden Tino vorbei in den Tropenwald, hinauf zum Mafane, wo sie sich zu Boden warf und nicht mehr erhob, bis die Dämmerung sich über Samoa legte.
Das Ungeheuerliche war, dass das Leben im Papaya-Palast einfach weiterging. Ili fühlte sich in den Monaten nach Senjis Tod derart aufgewühlt, machtlos und trostlos, dass sie glaubte, der Himmel müsse einstürzen oder – wahrscheinlicher – die Japaner würden über Samoa herfallen. Irgendetwas musste sich doch ändern! Aber alles blieb, wie es war, zumindest der äußerliche Gang des Lebens schlug wie ein Uhrwerk weiter, und schon bald kam es Ili vor, als habe sie ihre Zeit mit Senji, diese drei viel zu kurzen Jahre, nur geträumt.
Ili ging wieder täglich in die Plantage. Und Moana saß zu Hause und sah Tino beim Trinken zu. Er trieb sich immer häufiger herum, kam ganze Tage nicht nach Hause und spülte Unmengen von Schnaps seine Kehle hinunter. Zu jener Zeit – es herrschte noch drei Jahre lang Krieg – war Alkohol nur über Schwarzhändler zu bekommen und daher ein kostspieliger Luxusartikel. Selbst der billige Fusel, den Tino unentwegt trank, konnte jemanden in den Ruin treiben. Moanas Vermögen schmolz dahin. Natürlich
ließ sie sich weder vor anderen und schon gar nicht vor Ili etwas anmerken, aber so mancher abendliche Streit zwischen ihr und Tino wurde derart laut geführt, dass Ili auf ihrer Veranda keine Probleme hatte, jedes Wort zu verstehen. Ili versuchte sich immer wieder einzureden, dass es ihr gleichgültig war, was mit ihrer Cousine und deren versoffenem Ehemann geschah; in Wahrheit jedoch genoss sie jeden einzelnen Wutanfall Moanas, jede ihrer Tränen, und als Tino seine Frau während eines Streits schlug, war Ili ihm insgeheim sogar dankbar dafür.
Zwei Wochen nach Kriegsende 1945 bat er Ili um Geld, und zwar um eine erhebliche Summe. Moana hatte den Rest ihres Vermögens irgendwo vergraben und das Versteck auch unter Tinos Schlägen nicht preisgegeben. Natürlich verspürte Ili nicht die geringste Lust, dem Taugenichts den Gin zu bezahlen, aber als er Ili enthüllte, dass er das Geld brauche, um den Papaya-Palast zu verlassen, zögerte sie keinen Augenblick und händigte ihm die Summe aus. Noch in der gleichen Stunde schnürte Tino sich ein Päckchen, fuhr mit der Fähre nach Apia und von dort mit unbekanntem Ziel weiter. Vielleicht ging er, wie viele in diesen Jahren, nach Neuseeland oder Australien. Er kehrte nie wieder zurück, und man erfuhr nicht, was aus ihm geworden war.
Er hinterließ zwei Dinge: einen Abschiedsbrief, aus dem hervorging, dass Ili ihm das Geld für seine Reise gegeben hatte – sie selbst hatte ihn darum gebeten, diese Tatsache zu erwähnen. Moanas Verbitterung darüber tat ihr gut, doch sie konnte sie nicht lange genießen, weil sie bald der Meinung war, dass sie Moana im Grunde unfreiwillig einen Gefallen getan hatte. Der Säufer und Schläger Tino wäre Moana in den folgenden Monaten nämlich äußerst gefährlich geworden – sie war schwanger.
Und im April 1946 gebar Moana einen Sohn, den sie Atonio nannte.
Was Ili nicht für möglich gehalten hatte, geschah: Sie mochte Atonio. Wenn sie sein aufrichtiges, gewinnendes Lachen hörte, konnte sie vergessen, dass er Moanas Sohn war. Er sah so gut aus wie sein Vater, hatte geschwungene Augen, schulterlanges, schwarzes Haar und einen Körper, der schon früh die athletische Figur ahnen ließ. Tupu und Tino waren in ihm zusammengetroffen, doch glücklicherweise nur im äußeren Erscheinungsbild und nicht im Charakter. Atonio zeigte weder Falschheit noch Dummheit. Er ließ sich von seiner Mutter nicht dazu überreden, Ili zu fürchten oder zu verachten, sondern ging im Gegenteil jeden Tag, wenn er von der Schule kam, erst bei ihr
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