Der Duft der grünen Papaya
vorbei. Sie gab ihm Kokosmilch, backte Scones, und oft fischten sie in der Bucht. An manchen Tagen ruderte er Ili in einem Kanu auf den Pazifik hinaus, um ihr zu zeigen, wie kräftig er schon war. Ili wurde für ihn eine zweite Mutter. Mit ihr konnte er Dinge tun, die mit seiner wahren Mutter unmöglich waren.
Moana verließ ihr Haus kaum noch. Sie fiel in eine lähmende Lethargie, die Ili, da sie sie von klein auf kannte, überraschte. Von dem ungeheuren Bewegungsdrang der Kinderjahre und den koketten, sprunghaften Launen der Jugend war nichts übrig. Es war, als würde Moana ihr Leben in den ersten fünfunddreißig Jahren gelebt und keine Kraft für die weiteren Jahrzehnte zurückbehalten haben. Ilis und Atonios Einvernehmen setzte sie nur geringen Widerstand entgegen, und nachdem Malietama Opalanis Sohn Ben einen Lieferservice für Savaii eingerichtet hatte, ging sie noch nicht einmal mehr zum Einkaufen aus dem Haus. Atonio und Ben waren beinahe die einzigen Menschen, zu denen sie noch Kontakt hatte.
Am Tag der Unabhängigkeit Samoas von Neuseeland im Jahre 1962 lernte Atonio auf einem Fest seine spätere Frau kennen, Taiata. Ili und Moana sahen dabei zu, wie er das
Mädchen ansprach, wie er vor ihr tanzte, wie er ihr seine herrliche korallenfarbene Muschelkette schenkte. Schulter an Schulter standen die beiden Frauen beieinander, gleichsam zwei Mütter eines Sohnes, und spürten, wie die Zeit vergangen war. Sie tauschten einen Blick, ihre Köpfe zitterten leicht, und ihre Augen schimmerten wie schwarze Perlen. Wer sie nicht kannte, hätte glauben können, dass sie Freundinnen wären, so innig betrachteten sie sich. In Wahrheit hassten sie sich. Sie waren Rivalinnen um jeden Menschen, um jede Emotion, um jedes bisschen Liebe und Aufmerksamkeit. Moana gönnte Ili nichts, und Ili vergab Moana nichts. Jede kämpfte auf ihre Weise, jede spürte, was in der anderen vorging und dass der Kampf niemals enden würde. Ihre Schicksale waren miteinander verwoben und würden es immer bleiben.
Taiata bedeutete »lächelnder See«, und dieser Name war bei ihr Programm. Sie war gütig und leise. Ili fühlte sich bei ihrer Sanftheit an Senji erinnert, nur dass Taiata dessen Klugheit fehlte. Sie sagte wenig und fragte nie etwas, erduldete klaglos die matronenhafte Griesgrämigkeit ihrer Schwiegermutter, erledigte deren Haushalt und empfing Atonio jedesmal mit großer Zärtlichkeit, wenn er nach Hause kam. Er arbeitete jetzt viel in der Pflanzung, wofür Ili ihm dankbar war – vierzig Jahre Arbeit mit Papayas steckten ihr in den Knochen. Immerhin würde Atonio nach Moanas Tod die Hälfte des Landes gehören, und Ili, die keine eigenen Kinder hatte, würde ihm auch ihren Anteil vererben, so hatte sie es beschlossen. Atonio kümmerte sich also um die körperlich anstrengenden Arbeiten wie Aufzucht, Ernte und Beaufsichtigung der Arbeitskräfte, während Ilis Schwerpunkt im Kontakt zu den Händlern bestand.
Der Plantage ging es nie besser als Ende der sechziger
Jahre. Die Preise waren fair und die Ernten fast immer gut. Zur gleichen Zeit jedoch nahm eine Tragödie ihren Anfang, deren Ausmaß zunächst niemand ahnen konnte.
Taiata wurde schwanger und verlor das Kind im siebten Monat. Das junge Paar trauerte, und jeder litt mit ihnen, doch sie waren jung und zuversichtlich und kamen bald darüber hinweg. Drei Jahre später wiederholte sich das Unglück, und ein weiteres Jahr darauf ein drittes Mal. Taiata, die stets so zerbrechlich schien, ertrug die Schmerzen duldsam, Atonio hingegen veränderte sich. So als hinge eine dunkle Wolke über seinem Kopf, wurde er reizbar und launisch. Noch zweimal wurde Taiata schwanger, aber jedes Mal gebar sie Knaben, die ein paar Stunden lang wie gestrandete Fische nach Luft schnappten und dann starben. Es wurde still im Papaya-Palast, bedrückend still. Ili musste ohnmächtig mit ansehen, wie der heitere junge Mann von früher mehr und mehr wie sein Vater und Großvater wurde, wie Tino und Tupu. Zwar vernachlässigte er nie die Arbeit in der Plantage, sondern schuftete härter und verbissener denn je, aber er begann zu trinken und konnte manchmal unausstehlich sein.
»Es ist dumm, sich allein auf Papayas zu verlassen«, meinte er.
»Wenn das so ist«, entgegnete Ili schmunzelnd, »bin ich seit fünfzig Jahren dumm, und wenn ich die Jahre meiner Mutter dazuzähle, sogar seit sechzig Jahren.«
»Haha«, raunte er. »Die Sache ist ernst, Tante. Wenn der Markt für Papayas mal einbricht, sehen
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