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Der Duft der grünen Papaya

Der Duft der grünen Papaya

Titel: Der Duft der grünen Papaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Benedict
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Evelyn sie gefunden hatte.
    »Mein Gott«, seufzte Ili nach einem kurzen Blick, und Evelyn musste sie stützen. Sie führte sie in Moanas Küche und half ihr, sich auf einen Stuhl zu setzen.
    »Sie hat gelitten«, sagte Ili. »In ihrem Gesicht steht geschrieben, wie sehr sie gelitten hat. Ich habe schon lange sehen können, wie es in ihrem Innern aussah, und in den letzten Sekunden war das nicht anders. Noch im Tod spricht sie zu mir.«
    »Wahrscheinlich hat sie nicht lange leiden müssen«, tröstete Evelyn.
    Ili verneinte. »Sie hat ihr ganzes Leben gelitten.«
    Sie trank Wasser, das Evelyn ihr in einer Schale reichte, und verharrte eine Weile reglos und stumm, bis Leutnant Malu die Küche betrat.
    Er nahm die Mütze ab und sprach ihr sein Beileid aus. »Herzversagen«, erklärte er. »Der Arzt sagt, sie war binnen Sekunden tot. Vermutlich saß sie auf der Matte auf der Veranda und – da geschah es. Das hier haben wir neben ihr gefunden.«
    Er reichte ihr einen aufgerissenen Briefumschlag. »Entschuldigung, aber ich musste ihn öffnen. Sie verstehen das?«
    »Was steht drin?«, fragte Ili.
    Er räusperte sich. »Es handelt sich um ein Testament. Darin« – er räusperte sich erneut – »werden Sie als Erbin des Hauses und Landes eingesetzt.«

    Ili richtete sich im Stuhl auf. »Ich? Aber das kann doch nicht sein. Sie hat mich doch immer … Wir waren doch …«
    »Moana hat ihre Meinung offenbar geändert«, nahm er Ilis Einwand vorweg. »Es ist zweifellos ihre Handschrift. Da der Brief auf heute datiert ist und neben ihr gefunden wurde, nehme ich an, dass sie ihn kurz vor ihrem Tod verfasst hat. Dieser trat etwa gegen Mitternacht ein, sagt der Arzt.«
    »Mitternacht! Das muss gewesen sein, kurz nachdem sie bei mir war.«
    »Sie war bei Ihnen?« Evelyn und Leutnant Malu waren überrascht.
    Ili blickte gedankenverloren vor sich hin. »Ja«, murmelte sie. »Wir haben gesprochen. Nur ganz kurz, aber immerhin. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten. Sie war irgendwie durcheinander. Wir sprachen über die Vergangenheit, auf eine eigentümliche Weise – jemand, der dabei gewesen wäre, hätte uns wohl für wirr gehalten. Merkwürdig, dass zwei Menschen so viele Jahre nicht miteinander reden, und wenn sie dann die ersten Worte aneinander richten, durchschauen sie doch, was der andere sagt. Nicht das, was wir sagten , war wichtig, sondern was wir damit ausdrückten . Ihr Streit mit Ane wurde mit keinem Wort erwähnt, und doch …«
    »Was war mit Ane?«, unterbrach Leutnant Malu.
    Ili zuckte zusammen. »Wie bitte?«
    »Sie erwähnten einen Streit zwischen Moana und Ane. Worum handelte es sich dabei?«
    Ili suchte nach Worten. »Nun, Ane war seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen.«
    »Wenn sie nicht zu Hause war, wie konnte sie dann mit ihrer Großmutter streiten?«
    »Der Streit war vorher.«
    »Verstehe ich Sie richtig: Die beiden stritten über etwas,
das erst noch geschehen sollte? Sie müssen zugeben, dass das nicht glaubwürdig klingt.«
    »Das stimmt schon, aber … Hauptsächlich sorgte Moana sich nicht wegen Ane, sondern wegen der bevorstehenden Enteignung«, wich Ili ein wenig trotzig aus.
    »Sind Sie sicher, dass Moana vor allem deswegen so durcheinander war?«
    »Ganz sicher.«
    »Immerhin berichteten Sie eben, die Vergangenheit hätte bei Ihrem Gespräch eine Rolle gespielt. Eine bestimmte Vergangenheit vielleicht? Irgendein Ereignis?«
    »Die Vergangenheit allgemein.«
    »Atonios Tod ist in diesem ›allgemein‹ inbegriffen?«
    »Was wollen Sie eigentlich, Leutnant Malu?«
    »Einen Tod aufklären.«
    »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, starb Moana an Herzversagen.«
    »Diesen Tod habe ich auch nicht gemeint.« Er knurrte etwas in sich hinein und tauschte mit Ili einen langen Blick.
    »Das ist alles?«, fragte er schließlich.
    »Das ist alles«, sagte sie.
    Das ist bestimmt nicht alles, dachte Evelyn.
     
    Anes verschwommener, gleichgültiger Blick fixierte den Chinesen, als er näher kam. Sie blies den Rauch aus Mund und Nase, hustete heftig und drückte den glimmenden Zigarettenstummel in die Flasche. Mit einer Armbewegung schob sie die vier leeren Bierflaschen zur Seite, um Platz auf dem winzigen Kneipentisch zu schaffen.
    Er musste der Mann sein, den sie erwartete.
    Wer sonst soll sich heute zu mir an den Tisch setzen wollen?, dachte sie. So wie ich aussehe.
    Keiner ihrer früheren Verehrer hätte sie wiedererkannt, und wenn doch, einen großen Bogen um sie gemacht. Sie
hatte seit Tagen kein

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