Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Duft der grünen Papaya

Der Duft der grünen Papaya

Titel: Der Duft der grünen Papaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Benedict
Vom Netzwerk:
spürte sie, wie glücklich Ili trotz tiefer Narben nach wie vor war, und dieser Gedanke war ihr derart unerträglich geworden, dass sie zu verzweifelten Mitteln griff. Mitteln wie dieser Schnur. Doch das ging jetzt entschieden zu weit.
    Ili blickte unbemerkt durch das Küchenfenster. Direkt vor ihr köchelte ein riesiger Topf mit den Suppenhühnern, die Ben gebracht hatte. Moana war gerade dabei, Gemüse zu schneiden, wobei sie Ili den Rücken zuwandte.
    Einem Impuls folgend, warf Ili rasch die Schnur in den Topf und sah zufrieden zu, wie sie langsam im Sud unterging.
    In diesem Moment drehte Moana sich zu ihr um. Schon seit langer Zeit fühlten sie die Nähe der anderen, so als witterten sie sich. Da sie schon seit Ewigkeiten nicht miteinander sprachen, waren die Augen, das Mienenspiel und die Körperhaltung die einzigen Mittel ihrer Verständigung. Sie beherrschten diese Klaviatur der Mimik und Gestik perfekt. Jede Regung, jede Falte, jeden Blick konnten sie lesen, nicht schlechter, als wenn die andere ein Plakat mit großen Blockbuchstaben mit sich herumtrüge.

    Das Plakat, auf das Ili nun blickte, war unmissverständlich.
    Ich kriege dich noch, stand darauf. Die Schnur war erst der Anfang, ein alberner Kinderstreich wie in den ersten Tagen unserer Feindschaft.
    Jetzt aber beginnen die letzten Tage unserer Feindschaft.
     
    Links und rechts des Jeeps glitten Hunderte, ja Tausende von Baumstämmen vorbei, und wenn Ray Kettner einen Wald sah, dachte er sofort an seine Kindheit in Wyoming. Seinen ersten Ast hatte er im Alter von vier Jahren zersägt, als seine Mutter starb und er zusammen mit seinem Vater einen Sarg für sie baute. Daran konnte er sich nicht mehr erinnern, wohl aber, dass er mit sechs Jahren auf Befehl seines Vaters eine neue elektrische Kreissäge benutzte, die ihm den linken Daumen zur Hälfte durchtrennte. Mit sieben Jahren half er beim Verladen der Paneele, mit neun lernte er, selbstständig die Aufträge von Geschäftspartnern zu bearbeiten, weil Chuck, sein Vater, zu betrunken dafür war.
    Chucks Sägemühle lag mitten in den Wäldern von Wyoming. Die Mühle war nicht groß genug, um damit reich zu werden, und nicht leise genug, um das abgelegene Idyll zu genießen. Chuck wurde von Geistern verfolgt, jedenfalls glaubte Ray das damals. Wenn er von seiner toten Frau sprach, Rays Mutter, nannte er sie eine verdammte Hure und dass sie ihn bei ihrem ersten Treffen verhext habe und ihn auch heute noch jede Nacht im Traum verfolge. Auch Chucks Vater, den Ray nie kennen gelernt hatte, verfolgte ihn, denn immerzu sprach er von ihm, zum Beispiel, wenn er Ray mit Latten verprügelte, oder als er Ray verbot, die Schule zu Ende zu machen. Dann sagte Chuck: Mein Vater hat das genauso bei mir gemacht. Manchmal bohrten sich bei den Schlägen Splitter des zerfaserten Holzes in
Rays Haut, so dass er tagelang nicht sitzen und nicht richtig schlafen konnte. Aber eines Tages, da war Ray dreizehn, schlug er so zurück, dass Chuck die Wange aufgerissen wurde. Von da an hielt sein Vater sich im Zaum.
    Mit siebzehn wurde Ray von Chuck verjagt, zwar nicht mit der üblichen Gewalt, aber doch sehr nachdrücklich. Chuck sagte einfach, er könne ihn nicht mehr ernähren, es kämen zu wenige Aufträge herein. Und als Ray das nicht sofort begriff, gab er ihm nichts mehr zu essen. Er hätte ihn buchstäblich verhungern lassen. Und so ging Ray fort.
    Zunächst arbeitete er in einem Holzgroßhandel in Colorado. Anfangs schleppte er Bretter, sechs Tage in der Woche, zehn Stunden am Tag. Er lud sie von Ladeflächen herunter, trug sie in eine riesige Halle, die durch Nummern auf Pappschildern in etliche Sektionen aufgeteilt war, und gab ihnen einen von Chefs festgelegten Platz. Wenn er nicht gerade ab- oder auflud, wartete er, zusammen mit einer Hand voll anderer Burschen, auf den nächsten Laster. Die anderen spielten Karten oder würfelten, aber er war so viel Gesellschaft nicht gewöhnt und ging lieber spazieren. Die eine Hand in der Tasche, die andere ein Butterbrot umklammernd, schlenderte er durch die Lagerhalle, wo sich der würzige Duft frischer Baumleichen mit dem schimmeligen Gestank alter Sägespäne mischte. Dann atmete er tief ein. Dieser spezielle Geruch umgab ihn völlig, ja, er durchdrang ihn. Die Colorado-Frauen, mit denen er manche Nacht verbrachte, verzogen ein wenig den Mund, wenn er auf ihnen lag und nach Baumleiche roch, doch weder ein Bad noch frische Luft vermochten den Geruch zu töten. Und so wurde er

Weitere Kostenlose Bücher