Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Duft der grünen Papaya

Der Duft der grünen Papaya

Titel: Der Duft der grünen Papaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Benedict
Vom Netzwerk:
Gedanken fassen. Ihr Blick streifte über die beiden leeren Weißweinflaschen neben dem Bett und die zerknitterten Kleidungsstücke, die im Zimmer verstreut lagen. Und aus dem geöffneten Koffer glitzerten sie bereits die letzten zwei Flaschen an. Angeekelt verzog sie das Gesicht und wandte sich ab. Sie spürte Abscheu, nicht nur vor dem Alkohol, der sie mal wieder besiegt hatte, sondern auch vor sich selbst, vor ihrer Schwäche, die mit jedem Tag mehr Besitz von ihr ergriff. Früher war sie stark gewesen. Nicht unverletzlich, wer war das schon? Aber sie hatte Ziele gehabt, hatte an sich geglaubt und daran, immer einen Weg aus einer schwierigen Situation zu finden. Wenn sie einmal keinen Rat gewusst hatte, waren Menschen dagewesen, die sie um Hilfe bitten konnte, vor allem Carsten, ihr Mann. Ihre Kraft, ihre Zuversicht, ihr Glaube an sich und die Umwelt, das alles starb seit Jahren einen langsamen Tod, und die spärlichen Reste davon reichten gerade noch aus, um eine
Fassade aufrechtzuerhalten. Doch selbst diese bröckelte bereits.
    Evelyn ertrug den säuerlichen Geruch abgestandenen Alkohols nicht länger und stand auf. Endlich warf sie einen Blick auf die Armbanduhr, die sie letzte Nacht nicht abgelegt hatte. Es war schon zehn vor elf. Sie ging nach nebenan in einen kleinen Waschraum, spritzte sich Wasser ins Gesicht, kämmte schnell ihre Haare durch und verdeckte mit einigen kosmetischen Mitteln die schlimmsten Spuren, die die letzte Nacht in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Anschließend zog sie ein frisches Shirt über, blieb jedoch bei der weißen Jeans vom Vortag und gab sich auch sonst keine weitere Mühe mit ihrem Äußeren. Wäre ihre freundliche alte Wirtin nicht gewesen, hätte sie vermutlich noch weniger getan.
    Barfuß streifte sie durch die verschiedenen, ohne Türen ineinander übergehenden Räume des Hauses, das sie noch nicht einmal zur Hälfte gesehen hatte. Den meisten Zimmern sah man nicht an, welche Funktion sie erfüllten, denn ihre Ausstattung ähnelte sich zu sehr: riesige Truhen, kleine Tischchen mit Blumen und Gaslampen daneben, ein Bücherbord bestückt mit vergilbten Bänden von Thomas Mann, Christian Morgenstern und anderen Schriftstellern, gelegentlich ein paar Gestecke getrockneter Kräuter, die von der Decke herunterhingen und den konservierten Duft nach frischem Grün verbreiteten. Und überall lagen Flechtmatten auf dem steinernen Fußboden aus. Viel gab es nicht zu sehen, aber das wenige wirkte nicht nur völlig ausreichend, sondern es stellte auch einen angenehmen Kontrast zu der üppigen Fülle außerhalb des Hauses dar. Nur die Küche wirkte europäisch und neben ihr ein kleines Esszimmer, das Ili wahrscheinlich ausschließlich für Gäste nutzte. Auf dem Tisch lag ein Zettel, auf dem stand: »Liebe Evelyn, ich war mir nicht sicher, ob Sie lieber hier oder
auf der Veranda frühstücken möchten. Das Tablett mit allem Drum und Dran steht in der Küche. Ich bin in der Plantage, aber suchen Sie mich dort nicht, denn sie ist so groß, dass Unkundige sich schnell verlaufen können. Vielleicht sehen wir uns heute Mittag. Ili.«
    Das Tablett war so schwer, dass Evelyn Mühe hatte, es auf die Veranda zu balancieren. Außer einer warm gehaltenen Kanne Tee und einem Krug mit Saft, hatte Ili auch eine Schale mit geschnittenen Mangos und Papayas und eine weitere mit Getreideflocken vorbereitet, aus der Evelyn sich ein reichhaltiges Müsli machte.
    Sie saß auf dem gleichen Platz wie gestern Abend, als Ili ihr von Tristan, Tuila und Tupu erzählt hatte. Langsam kamen Evelyn die Details der Geschichte wieder in Erinnerung, die sich in einer fernen Zeit abgespielt hatte und trotzdem mit diesem Haus in Verbindung stand. Leider wusste sie noch nicht, auf welche Weise, denn Ili war bald nach Einbruch der Dunkelheit müde geworden und in ihr Zimmer gegangen. Evelyn hatte die Geschichte bis dahin nicht nur interessant gefunden, die Geschichte hatte sie außerdem von allem abgelenkt, womit ihr Kopf sich sonst beschäftigte. Nachdem Ili gegangen und auch Evelyn zurück in ihrem Zimmer war, hatten alle Gespenster sie wieder eingeholt, und es waren keine fünf Minuten vergangen, bis sie zu der angebrochenen Weinflasche gegriffen hatte. Einmal angefangen, konnte sie nicht mehr aufhören, bis sie so betäubt gewesen war, dass sie nichts mehr fühlte. Erst dann war sie eingeschlafen.
    Stimmen hallten über den weiten Rasen bis zur Veranda. Evelyn beobachtete, wie Ane aus dem anderen Flügel des Hauses

Weitere Kostenlose Bücher