Der Duft der grünen Papaya
ihr eine ›Gebühr‹ für alles Mögliche zahlen. Doch auch das stellt sie nicht zufrieden. Sie will einfach nur weg, und damit ist sie nicht allein. Eine Reihe junger Samoaner träumt davon, das Leben, das meine Generation führte, hinter sich zu lassen. Von der Welt da draußen erwarten sie sich Reichtum, Ansehen, Ruhm und alle diese Dinge, die in Samoa nicht wachsen. Wir haben nur Früchte. Die Geborgenheit eines vertrauten Zuhauses, der Rhythmus der Arbeit mit der Natur, die Einfachheit, das zählt nicht mehr.«
Ili öffnete eine knarrende Schranktür nach der anderen und räumte das Geschirr ein, bewegte sich mit der Sicherheit eines Menschen, der jeden Handgriff und jede Drehung schon eine Million Mal gemacht hat. Dann hielt sie inne, blieb am Fenster stehen und blickte nach draußen, wo einige Loris umherflatterten.
»Aber ich will nicht ungerecht sein«, sagte sie. »Ane kann überhaupt nicht dasselbe Verhältnis zum Papaya-Palast haben wie ich. Niemand kann das. Wer diese einundneunzig Jahre nicht miterlebt hat, wer nicht weiß, was davor geschehen ist …« Ilis Nachdenklichkeit wurde zur Freude, als sie sich zu Evelyn umwandte und sagte: »Ich habe unsere gestrige Unterhaltung genossen, Evelyn. Es tut mir gut, mich zu erinnern, vor allem, weil mir dabei Dinge einfallen, die
ich längst vergessen hatte. Ich war ja noch sehr jung, als meine Mutter mir alles erzählte.«
»Ich hätte Ihnen gestern stundenlang zuhören können.«
»Das haben Sie auch. Ich fürchte, ich habe mich verplaudert. Sie müssen es mir sagen, wenn ich Sie langweile.«
Evelyn räumte den letzten Teller zu den anderen im Küchenschrank. »Davon kann keine Rede sein.«
»Fa’afetai« , sagte Ili lächelnd. »Danke für das Kompliment. Und für Ihre Hilfe.«
»Nicht der Rede wert. Also, wie ging es weiter mit Tuila und Tristan?«
»Immer langsam. Vorher sollte ich noch erwähnen, dass Tupu, Tuilas Bruder, sich den Mau anschloss.«
»Der Widerstandsgruppe gegen die Deutschen.«
Ili nickte. »Er war tief in seinem Stolz getroffen. Die Demütigung durch Oberst Rassnitz war eine frische Wunde, und in ebendieser Zeit geriet er unter falschen Einfluss. Verletzte Menschen denken nicht viel nach. Sie suchen jeden Rückhalt, den sie kriegen können. Da Tupus Familie und der Freundeskreis ihm außer Mitleid nicht viel geben konnten, ging er zu denen, die ihn noch als vollwertigen Mann ansahen, die ihm noch etwas zutrauten. Die Mau trafen sich an geheimen Plätzen im Wald. Niemand wusste genau, wer zu ihnen gehörte, aber auf ganz Savaii waren es nicht mehr als zehn Männer, auf Upolu noch einmal so viele. Sie besaßen zu jener Zeit kein großes Ansehen in der samoanischen Bevölkerung, denn sie konnten weder verständlich machen, was nach einem – natürlich unwahrscheinlichen – Abzug der Deutschen besser werden sollte, noch bewiesen sie durch ihre Taten besonderen Mut. Ihre Anschläge zeichneten sich durch Hinterhältigkeit aus oder richteten sich gegen Schwache. Trotzdem verlangten sie von jedem neuen Mitglied eine Mutprobe, einen selbst geplanten und durchgeführten Anschlag zum Einstand.«
»Sie sagten doch, die Anschläge seien harmlos gewesen.«
»Das, was Tupu vorhatte, und das, was dann daraus wurde, waren zwei verschiedene Dinge. Manchmal ist es nur ein winziger Zufall, der aus einem Streich ein Verbrechen macht.«
Samoa, 24. Februar 1914
Tristan hatte bei der Idee der Gouverneursgattin, ein Damenpicknick auf Savaii zu veranstalten, gleich ein schlechtes Gefühl gehabt. Aber an Tote hatte er dabei natürlich nicht gedacht.
Der Brief von Frau Schultz war am Tag zuvor gekommen, zusammen mit einem anderen, der Tristans Aufmerksamkeit in viel stärkerem Maße erregte. Das gräfliche Wappen der Arnsbergs auf dem Briefumschlag hätte bei ihm Heimweh, Stolz oder Freude auslösen sollen, doch er spürte nur eine seltsame Beklemmung. Das Gefühl legte sich, als er den Brief entfaltete und die Handschrift seiner Mutter sah. Er war froh, dass sie es war, die ihm schrieb, nicht sein Vater, trotzdem kamen ihm diese Zeilen wie Eindringlinge aus einer Welt vor, die mit jedem Tag, den er auf Savaii verbrachte, weiter wegzurücken schien.
Mein lieber Tristan!
Seit Deinem ersten Brief, den Du kurz nach Deiner Ankunft in Deutsch-Samoa geschrieben hast, haben wir nichts mehr von Dir gehört. Sicher hast Du viel zu tun. Aber gelegentlich könntest Du uns ein paar Sätze schreiben. Sieh, wenn ein Kind so weit fort ist wie Du,
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