Der Duft der grünen Papaya
nachgehen.
»Wenn dann nicht schon das nächste unterwegs ist«, sagte Carsten augenzwinkernd.
»Lass mich erst einmal dieses hier zur Welt bringen, du Schuft.«
Sie lachten. Auch an jenem ersten Novembertag lachten sie im Krankenhaus. Die Wehen waren für diesen Tag erwartet worden und setzten auch tatsächlich ein. »Er ist pünktlich«, sagte Carsten laut genug, damit alle Schwestern und Ärzte ihn hören konnten. »Das hat er von mir.«
»Von mir auch«, fügte Evelyn hinzu.
Der Arzt hielt die neueste Aufnahme gegen das Licht und blickte dann sie und Carsten ernst an. »Sie irren sich beide.«
»Wieso? Was ist los?«, wollte Evelyn wissen.
Der Arzt zwinkerte. »Wir waren uns bei dem Geschlecht ja bis zum Schluss nicht ganz sicher. Nun wissen wir es. Sie ist pünktlich, muss es korrekt heißen.«
Evelyn und Carsten atmeten erleichtert auf und brachen erneut in Gelächter aus.
Der Arzt mit dem Sinn für makabren Humor sollte Recht behalten. Das Mädchen wurde am frühen Abend geboren. »Eine Bilderbuchgeburt«, meinte die Hebamme. »Und ein Bilderbuchbaby.«
Vor allem Letzteres bestätigten alle, die sich an jenem Abend mit Carsten und ihr freuten: ihre Eltern, ihre Schwäger und Schwägerinnen, ja sogar die Schwiegereltern. Sie küssten Evelyn, umarmten sie, lobten ihre Tapferkeit, und ihre Schwiegermutter begann sogar von den eigenen drei Geburten zu erzählen, was bedeutete, dass Evelyn in ihren Augen eigentlich erst seit diesem Tag so richtig zur Familie gehörte.
Kurz vor Ende der Besuchszeit war dann noch Bianca, ihre Geschäftspartnerin, vorbeigekommen. Biancas direkte, schnörkellose Art und das Fehlen jeglicher privater Berührungspunkte hatten zwar keine Freundschaft zwischen ihnen entstehen lassen, aber Bianca war die fähigste von allen Mitarbeiterinnen gewesen, und auf beruflichem Gebiet stimmten sie vollständig überein.
Bianca kam zwischen zwei Terminen vorbeigeflitzt, aufgedreht und gut gelaunt, brachte eine ziemlich hässliche Stoffgiraffe mit, sagte Evelyn, sie sehe sehr glücklich und sehr ramponiert aus, und hinterließ einen Geruch von Zigarettenrauch, der an ihrer Kleidung gehaftet hatte.
Dann kehrte endlich Ruhe ein. Evelyn war müde und übergab ihr Töchterchen der Nachtschwester. Carsten blieb noch einige Minuten an ihrem Bett sitzen.
»Warum gehst du nicht?«, fragte sie.
Er nahm ihre Hand. »Ich warte hier, bis du eingeschlafen bist.« Er musste nicht sagen, dass er sie liebte. Es stand in seinen Augen, war in jeder Geste zu spüren.
»Welchen Namen geben wir ihr?«, fragte sie an der Schwelle zum Schlaf, die Augen schon geschlossen.
»Das besprechen wir morgen. Schlaf gut.«
Und dann hörte sie es doch noch. Carsten stand auf, ging zur Tür und murmelte: »Ich liebe dich.«
Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war das grelle Licht einer Glühbirne direkt über ihrem Bett.
»Frau Braams?« Ein Arzt stand, von zwei Schwestern flankiert, vor ihrem Bett, die eine mit einer Spritze in der Hand.
»Ihre Tochter …« Er stockte. »Es tut mir Leid, aber … Sie ist soeben verstorben.«
Und noch bevor sie etwas sagen konnte, hob die eine Schwester ihren linken Arm an, und die andere spritzte ihr das Beruhigungsmittel.
Evelyn sprang auf, warf dabei fast den Tisch um. Die Schale mit der Kokosmilch fiel auf den Boden, und ihr Inhalt ergoss sich über die Steinfliesen der Terrasse. Ihre Hände zitterten. Immer wenn die Erinnerung an jenen grauenhaften Tag sie überkam, bebte ihr ganzer Körper, und das geschah fast jeden Tag und sehr oft in der Nacht.
Eins, zwei, drei … Sie brauchte einige Sekunden, um sich wieder einigermaßen zu fassen. Nervös blickte sie sich um. Die Männer hatten ihr Kartenspiel kurz unterbrochen und sahen sie halb neugierig, halb gleichmütig an. Einer von ihnen rief in die Bar hinein, woraufhin der dicke Wirt kam und sich unter Aufbietung all seiner Kräfte bückte, um die Schale aufzuheben.
»Das war sehr ungeschickt von mir«, entschuldigte sie sich.
Er zuckte mit den Schultern. »Okay«, kommentierte er den Vorfall bloß. »Soll ich Ihnen eine neue bringen?«
Von überall schien ihr plötzlich der Geruch von Gin und Rum in die Nase zu wehen, aus den Gläsern der Gäste, aus der benachbarten kleinen Cocktailbar. Sie wollte plötzlich nicht mehr hier sein, in Apia, sie wollte zurück in den Papaya-Palast,
eine Stunde an der Bucht liegen, das Meer spüren, den Wellen zuhören. Und sie wollte etwas anderes trinken als
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