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Der Duft der Rose

Der Duft der Rose

Titel: Der Duft der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daria Charon
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unglaublichsten Gerücht ein Körnchen Wahrheit steckte.
    Während er über den Schlosshof ging, versuchte er das unbehagliche Gefühl abzuschütteln, das sich in ihm ausbreitete. Er suchte eine Stelle als Verwalter. Auf Plessis-Fertoc brauchte man einen Verwalter. Das war alles. Er würde seine Zunge im Zaum halten und seine Moral für sich behalten und die Comtesse behandeln, als wäre sie ein rohes Ei. Wenn das nicht reichte, konnte er ihr noch immer Honig um den Mund schmieren, um die Anstellung zu bekommen. Eine Saison lang, ein Jahr vielleicht, länger würde er für eine Frau ganz bestimmt nicht arbeiten - aber das brauchte sie nicht zu wissen.
    Er stieg die Stufen zum Haus hinauf. Alles, was er bisher von diesem Besitz gesehen hatte, befand sich in einem vortrefflichen Zustand. Die Fensterscheiben waren allesamt intakt und glänzten vor Sauberkeit. An der Fassade gab es keinen abgeschlagenen Putz, und die Holztore zeigten kaum Spuren von Verwitterung. Im weitläufigen Foyer blieb er stehen. Auch hier war alles vom Feinsten. Wandbehänge, Spiegel, Kommoden, Teppiche - kein Stäubchen, keine Schlieren, keine Schrammen, nur glänzendes Holz und farbenprächtige Stickereien.
    »Sie wünschen, Monsieur?« Ein livrierter Diener beäugte ihn von oben bis unten. Ganz offensichtlich fand er keine Gnade vor den kalten Blicken, und da er sein Spiegelbild gesehen hatte, konnte er es dem Mann nicht verdenken.
    »Mein Name ist Nicholas Levec. Ich möchte die Comtesse sprechen. Sie sucht einen Verwalter, deshalb bin ich hier.«
    »Ich werde mich erkundigen, ob die Gräfin zu sprechen ist.« Mit diesen Worten stakste der Mann davon.
    Nicholas ließ sein Bündel sinken und trat zu einem goldgerahmten Spiegel. Er zog ein ganz und gar nicht sauberes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit übers Gesicht. Dann strich er mit den Fingern sein dunkles Haar zurück und band es im Nacken neu zusammen. Während er sich weiter umsah, krempelte er die Ärmel seines Hemdes nach unten und schloss die Knöpfe der Manschetten. Aus seinem Bündel zog er seine Jacke und schlüpfte hinein, nachdem er sie ausgeschüttelt hatte. Das musste reichen. Schließlich bewarb er sich nicht als Tanzlehrer.
    Der Lakai kehrte mit steinerner Miene zurück und Nicholas' Mut sank. »Die Gräfin lässt bitten. Ich bringe Sie in ihr Arbeitszimmer, folgen Sie mir.«
    Erleichtert tat er, wie ihm geheißen, und ließ sein Bündel schließlich vor einer hohen, mit vergoldeten Schnitzereien geschmückten Flügeltür fallen. Der Lakai kündigte ihn mit seinem Namen an und trat dann beiseite, um ihn eintreten zu lassen.
    Der riesige Raum hatte nichts vom verspielten Boudoir einer adeligen Dame, sondern stellte mit seinen dunklen Farben, den wenigen, zweckmäßigen Möbeln und deckenhohen Bücherregalen zweifellos das Arbeitszimmer eines Mannes dar. Hinter dem wuchtigen, altmodischen Schreibtisch saß jedoch tatsächlich eine Frau, die jetzt die Feder weglegte und ihm entgegenblickte. Langsam trat er näher, und das Unbehagen verstärkte sich, ohne dass er einen Grund dafür nennen konnte.
    Entgegen aller gesellschaftlichen Regeln stand sie auf und machte zwei Schritte in seine Richtung. Sie war klein, und der weite Reifrock, der nur bis zu ihren Knöcheln reichte, schmeichelte ihrer Gestalt nicht. Ihr dichtes hellbraunes Haar türmte sich auf ihrem Kopf zu einer atemberaubenden Frisur, die sie vermutlich größer erscheinen lassen sollte und dabei kläglich scheiterte. Die Manschetten des einfachen dunkelblauen Kleides und der hochgeschlossene Kragen waren mit weißer Spitze besetzt.
    Er registrierte all diese Kleinigkeiten, während er durch den großen Raum auf sie zuging. Auf dem hellen Oval ihres Gesichts erschien ein Lächeln, und sein Unbehagen verwandelte sich plötzlich in eisige Kälte, die sich wie ein Dolch in seine Eingeweide bohrte.
    Er kannte diese Frau. Er hatte sie schon einmal gesehen. Vor drei Tagen. Sie hatte an einer Wiege gestanden und versucht, den darin liegenden Säugling mit einem Kissen zu ersticken. Damals hatte sie nicht gelächelt, sondern ihr Gesicht war von blankem, unverfälschtem Hass verzerrt gewesen.
    Großer Gott, warum musste ihn das Schicksal ausgerechnet in das Haus einer Frau führen, die skrupellos genug war, ein unschuldiges Kind zu töten? Er blieb stehen und kämpfte mit dem Drang, sich umzudrehen und in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Lose Moral war eine Sache, kaltblütiger Mord an einem hilflosen

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